Wir Wunderkinder
ermöglichen können, wurde jetzt zur Gewißheit: Kirsten und ich durften gemeinsam Weihnachten feiern. Mir wurde die Reise in die Heimatstadt zu teuer, und der Gillelejerin zu weit. Außerdem wollte sie mich nicht allein lassen, nachdem sie mich, wie sie es nannte, ›ganz leidlisch wieder aufgebaut hatte‹.
Man mußte vor dem kattegattischen Mädchen wirklich Respekt kriegen, wenn man sah, wie sie mich Entmutigten, Hoffnungslosen wieder auf die Beine gestellt hatte. Es war ihr sozusagen gelungen – um einen schrecklichen modernen Ausdruck zu gebrauchen –, ›mich hundertprozentig durchzuorganisieren‹.
Zunächst hatte ich auf ihr Geheiß als Stellungsloser genauso früh aufzustehen wie das Fräulein Studentin im letzten Semester. Um halb neun frühstückten wir zusammen. Aus gesundheitlichen Gründen mußte ich sie nachher zu Fuß bis zur Universität begleiten und durfte ihr dabei die Kollegmappe tragen. Danach hatte ich kehrtzumachen, zurückzugehen und um zehn Uhr am Schreibtisch zu sitzen.
»Isch habe disch als einen Undissiplinierten übernommen«, pflegte sie zu sagen. »Diese Mädschen von der Ostsee« (damit meinte sie Wera) »sind ssu lasch. Wir in Kattegatt sind ein bißschen salzischer.«
Trotz des Salzgeschmacks merkte ich, daß Kirstens strenge Ordnung mir gut tat. Ich schrieb in jenen Wochen eine Reihe heiterer Kurzgeschichten, die meine Dänische in ihre Muttersprache übersetzte und unter einem schönen nordischen Pseudonym im ›Helsingör Avis‹ veröffentlichte. Ihr Vater hatte in der Hamletstadt Helsingör etwas mit Bier, aber anscheinend auch mit der Zeitung zu tun, was jedoch nicht besagt, daß er Herausgeber einer Bierzeitung war.
Unermüdlich war Kirsten auf der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten für mich. Ich gestehe, daß ich immer ein bißchen eifersüchtig wurde, wenn sie ihre weiße Mütze aufsetzte – »heute mache isch misch offissiell skandinavisch ssurecht«, pflegte sie dann zu sagen, um irgendeinen Verlagsleiter zu betören, daß er uns gemeinsam eine Übersetzung aus ihrer Muttersprache gäbe. Im übrigen tanzte ich nur allzugern nach ihrer befehlenden Pfeife.
Am Heiligen Abend zündeten wir die Kerzen unseres winzigen Christbäumchens im gleichen Augenblick an, als Vater Roselieb seine Familie durch ein Kavalleriesignal zur Bescherung rief.
Ich hatte für Kirsten ein hübsches kunstgewerbliches Kettchen gekauft, das ich durch Gebbingers Vermittlung zum Selbstkostenpreis bekam, und das kattegattische Mädchen verwöhnte mich über alle Maßen. Außer Büchern und geschmackvollen modischen Dingen schenkte sie mir etwas, das sie unter einem weißen Tuch verborgen hielt.
»Isch gebe dir einen Korb«, sagte sie bei der Enthüllung.
In dem Korb lagen dänische Delikatessen fleischlicher und fischiger Herkunft in so attraktiver Aufmachung, daß mir vor Rührung das Wasser in den Augen und vor Gier im Munde zusammenlief. Als sinnige Gabe meiner Wera stand in einer Chianti-Korbflasche ein Liter des herrlichen Valpoliceller Roten auf dem Gabentisch.
»Nun haben dir sswei Mädschen einen Korb gegeben«, sagte Kirsten. »Und weißt du, was wir dagegen machen?«
»Na?«
»Wir verloben uns unter diesem Weihnachtsbaum. Ist das nischt auch bei eusch Sitte?«
Ich starrte Kirsten entgeistert an – teils benommen vor Glück, teils auch ziemlich erschrocken. Das kam doch ein bißchen zu plötzlich, und der Gedanke an den Verlust meiner Freiheit bereitete mir einen Schock. Aber Kirsten ›organisierte‹ mich auch in dieser Sache sehr überlegen und nahm mir meine Sorgen.
»Isch mache nur ssur Bedingung, daß du es niemandem weitersagst.«
»Aber verzeih, Kirsten, was hätte dann die Sache überhaupt für einen Zweck?«
»Für uns hat sie diesen: Sie nagelt disch auf misch fest. Und Frau Roselieb werden wir es unter Diskression erssählen, damit sie nischt in moralische Verwirrung kommt. Aber sonst erfährt es niemand. Isch mag es nischt leiden, wenn die Leute ›Ihr Herr Bräutigam‹ sagen oder ›Ihr Fräulein Braut‹. Dann sehe isch disch auch nur mit einem abscheuhschen Ssylinderhut auf den Ohren. Und die Geschenke sind auch oft nischts wert.«
»Kirsten, herrlich! Was du alles mit mir anstellst! Und zehn oder fünfzehn Jahre, nachdem wir geheiratet haben, verloben wir uns dann richtig.«
»Das ist gut. Das freut die Kinder.«
»Aber, sag mal, wie kommen wir bloß unter den Weihnachtsbaum?«
Eine stilgemäße Verlobung ›unterm Christbaum‹ war bei
Weitere Kostenlose Bücher