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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Büllrump, Technische Fette und Öle en gros, derzeit als der reichste Mann meines Heimatstädtchens galt, und daß unsere Küche keine Küche war. Sie war die sogenannte ›Anrichte‹ für den Zimmertrakt des Erdgeschosses, das wir zusammen mit anderen Bombengeschädigten, Flüchtlingen und Vertriebenen bewohnten, während Büllrump sich vor der plebejischen Invasion grollend in den ersten Stock seines Schlößchens zurückgezogen hatte, wo er in Räumen hauste, die mit Möbeln, Kunstwerken und Jagdtrophäen vollgestopft waren.
    Von seiner Souterrain-Küche aus, die an Größe und technischem Komfort hinter keiner Hotelküche zurückzustehen brauchte, fuhren die Speisen in einem Aufzug an unseren Augen und Nasen vorbei ins Eßzimmer des Hausherrn. Obwohl uns von ihm strikt untersagt worden war, die kleine Schiebeklappe vor dem Aufzugsschacht zu öffnen, taten es die Kinder heimlich immer wieder.
    Unser Fünfeinhalbjähriger kam aus der Küche zurück und sagte mit sehnsüchtig verklärten Augen:
    »Zwei richtige Eier!«
    Eier waren Ullis Leibspeise, und er kannte sie im wesentlichen als ›Ei in der Tüte‹ oder – seltener – in der durch die Zufügung von Mehl und Wasser erzielten Streckform des Rühreis. Daß zwei ›richtige Eier‹ zum Frühstück des Junggesellen Büllrump hinaufgefahren waren, weckte seine nackte Gier. Mit seinen fünf Jahren begriff er noch nichts von dem einfachen Weg, auf dem sich damals technische Fette in Speisefette verwandelten. Die Tatsache hingegen, daß der Geist seiner akademischen Eltern sich weder in Fleisch noch Fett umsetzte, lag völlig außerhalb seiner märchenseligen Erfahrungswelt.
    »Ob du heute bei dem schönen Wetter nischt wieder einmal aufs Land hinausspassieren möschtest?« fragte Kirsten, die sich eben ihre Nummer zur Waschraumbenutzung geholt hatte.
    Ich kannte die sanfte Gewalt von Kirstens rhetorischen Fragen, und da sich der Morgen so unwahrscheinlich blau gebärdete, beschloß ich, an diesem herbstfrischen Tag einen Vorstoß in ein Gebiet zu unternehmen, das, zwölf Kilometer von der Stadt und der Bahnlinie entfernt, hinter den südlichen Wäldern lag. Dort würden die Bauernhöfe noch nicht so überlaufen sein und ihre Besitzer infolgedessen einem Werk der Barmherzigkeit gutwilliger gegenüberstehen.
    Der Tag war aus allen köstlichen Septemberingredienzien des Duftes und des Lichtes zubereitet. Ich schritt munter bergan. Das Tal mit den Türmen und Dächern meiner kleinen Heimatstadt blieb hinter und unter mir zurück, und von der Scheitelhöhe der südlichen Hügelkette sah ich zwischen Waldstücken blinkende Teiche und neue Türme und Dörfer, friedlich ruhend, und vom Kriege verschont.
    Plötzlich fiel mir Bruno Tiches ein. In einem der Dörfer in südöstlicher Richtung war ich einst mit ihm zum Goldsammeln gewesen und hatte dort selbst zwei Zehnmarkstücke vereinnahmt. ›Goldene Eier‹ nannten es damals die Bauern. Sicher würden sie mir heute ebenso bereitwillig kalkweiße Eier geben.
    Ich begriff nicht gleich, warum mir gerade dieses Dorf im ersten Augenblick, nachdem ich es betreten hatte, spukhaft erschien. Alle Häuser sahen noch genauso aus wie vor dreißig Jahren. Der Krug ›Zur Dorflinde‹ trug auf geweißter Wand noch denselben Besitzernamen.
    Ich hatte inzwischen Dörfer brennen sehen, und in den brennenden Ställen schrien die Kühe. Ich hatte Dörfer gesehen, aus denen zuerst das Vieh und danach die Menschen wie Vieh weggetrieben wurden. Ich war in toten Dörfern mit leeren Ställen und vertrockneten Brunnen gewesen, in deren grauenvoller Stille es nur schwarze Fliegenschwärme gab. Daß sich hier nichts verändert hatte – das eben war das Unheimliche …
    Mir fiel sogar der Name vom Besitzer des Hofes ein, vor dem ich stand. Zu der jungen Frau war damals mein Klassenkamerad Bruno öfter gegangen, als es nötig war. Als ich die schwere, schwarzgraue Hoftür aufgestoßen hatte, sah ich dahinter die junge Frau stehen, rotwangig, dunkelhaarig und ganz unverändert.
    »Guten Tag«, sagte ich, »kennen Sie mich noch?«
    Sie schaute mich gar nicht verwundert an. Es waren wohl alles ›Bekannte‹, die in dieser Notzeit auf den Hof kamen.
    »Haben Sie eine Mutter?« fragte ich weiter, als ich mir des Zeitabstands von dreißig Jahren bewußt wurde.
    Jetzt lachte sie und nahm mich nicht mehr ernst.
    Ich ging durch einen kühlen Steinflur, in dem es nach Milch roch, klopfte an die vertraute Stubentür und öffnete sie. Im Zimmer stand

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