Wir zwei sind Du und Ich
Wir wollten uns, bepackt mit unseren Ranzen, gerade auf den Heimweg von der Schule machen. Da kam plötzlich die Rektorin aufgeregt mit einer fremden Frau hinter uns hergerannt. Wir waren verwundert am Schulhoftor stehengeblieben. Die Frau war vom Jugendamt und sagte, sie müsse Ben etwas Schlimmes mitteilen. Seine Mutter habe einen Autounfall gehabt. Auf der glatten Fahrbahn der Stadtautobahn war ihr Wagen ins Schleudern gekommen und ein LKW war frontal in ihr Auto gerast. Sie war auf der Stelle tot.“
Ri fühlt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Sie kann sie nicht aufhalten. Immer noch fühlt sie Bens Hand, die bei der Nachricht von Lolas Tod so fest die ihre drückte, dass es schon wehtat.
Jetzt ist es Belinda, die tröstend ihre Hand drückt. „Das tut mir echt leid, Ri!“, murmelt Belinda leise.
Für einen Moment ist es ganz still um die beiden Mädchen. Die Welt an ihrem Tisch steht still. Nur um sie herum dreht sie sich weiter – auf der Straße, im Impala. Kunden kommen und gehen, tragen dampfende Becher heißen Kaffee eilig davon, mit der Sehnsucht nach ein bisschen Wärme auf dem kalten Weg zur Arbeit.
Traurig fährt Ri fort: „Weil Ben mit seiner Mutter allein lebte und keine Verwandten mehr hatte, musste er zu seinem Vater in die Türkei, nach Istanbul.“
„Verflixte Grütze!“ Belinda ist entsetzt. „Das war sicher die Hölle für Ben!“
„Und für mich!“, ergänzt Ri. „Wir waren schrecklich traurig, aber es gab keinen Ausweg!“
„Und dann?“
„Dann war da noch die Sache mit Jakob!“
„Wer ist denn jetzt wieder Jakob?“ Belinda runzelt fragend die Stirn.
„Jakob war ein kleiner Hundewelpe, den wir in unserem geheimen Versteck an der Spree im Gebüsch entdeckt hatten. Um ihm zu helfen, hatten wir ihn im Keller unserer alten Wohnung versteckt. Meine Eltern gingen nie in den Keller und sie hätten mir natürlich nie erlaubt, einen Hund zu halten.“
„Schon klar!“ Eine kleine Zornesfalte zieht sich senkrecht über Belindas Stirn.
„Es waren nur noch zwei Tage bis zu Bens Abflug. Ben wollte nach Jakob schauen, weil ich mit meiner Mutter stundenlang beim Arzt rumsaß. Unter dem Blumenkübel neben unserer Wohnungstür lag ein Ersatzschlüssel. Ben wusste das natürlich und konnte so in die Wohnung. Damit meine Eltern nicht irgendwann auf die Idee kamen, doch in den Keller zu gehen, hatte ich den Schlüssel unter der ollen Schmuckschatulle meiner Urgroßmutter in Papas Arbeitszimmer versteckt. Die stand im letzten Eck und staubte vor sich hin.“
Ri hält kurz inne und schaut Belinda an. „Was dann geschehen ist, kann ich nur vermuten. Als ich mit meiner Mutter nach Hause kam, erwartete uns mein Vater. Triumphierend stand er im Flur und sagte: ,Ich hab den Türkenjungen beim Klauen erwischt. Er war einfach in unserer Wohnung und machte sich an der Schmuckschatulle von meiner Großmutter zu schaffen.‘ Ich stand nur da und konnte gar nichts sagen. ,Das hat er wohl schon öfter gemacht. Jedenfalls ist die wertvolle Brosche weg‘, schimpfte mein Vater weiter und fügte noch hinzu: ,Naja, ich hab ihm ordentlich die Meinung gesagt und zum Glück ist er ja bald wieder in der Türkei.“‘
„Was!“, Belinda ist entsetzt. „Dein Vater ist echt das Letzte Ri!“
„Ich weiß!“
„Und was geschah dann?“
„Während sich meine Eltern darüber stritten, wann sie mir den Umgang mit Ben hätten verbieten sollen, bin ich unbemerkt ins Arbeitszimmer geschlüpft, habe mir den Kellerschlüssel geschnappt, der zum Glück noch unter der Schatulle lag und bin aus der Wohnung gehuscht. Im Keller habe ich Jakob an die Leine genommen und bin so schnell ich konnte zur Insel, unserem Versteck, gerannt.“
Selbst jetzt, bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Tag, schlägt Ris Herz aufgeregt.
„Ich wartete zwei Stunden in der Kälte, aber Ben kam nicht. Dann lief ich zu Bens Wohnung. Wie wild klopfte und klingelte ich bei der Nachbarin. Erstaunt schaute sie auf mich herab: „Ri? Ben ist vor einer Stunde abgeholt worden. Er musste schon heute nach Istanbul fliegen. Hat er dir das nicht gesagt?“
Belinda steht auf, geht zur Theke und kommt mit zwei frischen Tassen heißer Schokolade und warmen Croissants zurück. Ri schaut sie dankbar an.
Jetzt ist es fast wie in ihrem Traum, denkt Ri. Café und Croissant am frühen Morgen, nur der graue Himmel über Berlin ist anders als die Wintersonne Südfrankreichs.
„Und danach hast du nie wieder etwas von Ben gehört?“,
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