Wirbelsturm
Nachfolger selbst zu bestimmen. Der Nachfolger mußte Mitglied des Vorstandes sein und somit in gewissem Sinn zur Familie gehören, und sobald die Entscheidung gefallen war, mußte der alte Tai-Pan auf seine gesamte Macht verzichten. Ian Dunross hatte zehn Jahre lang weise regiert und dann seinen Vetter David MacStruan zu seinem Nachfolger ernannt. Vor vier Jahren war David MacStruan, ein begeisterter Bergsteiger, bei einem Kletterunfall im Himalaja ums Leben gekommen. Vor seinem Tod und in Gegenwart von zwei Zeugen hatte er überraschenderweise Linbar zu seinem Nachfolger bestimmt. Die britische und nepalesische Polizei hatten Nachforschungen über die Umstände seines Todes angestellt und herausgefunden, daß jemand sich an seinen Seilen und seiner Kletterausrüstung zu schaffen gemacht hatte. Das Ergebnis der Untersuchung lautete jedoch auf ›Unfall‹. Der Berg, der David zum Verhängnis geworden war, lag entlegen, der Sturz war überraschend erfolgt, niemand – weder die anderen Bergsteiger noch ihre Führer – wußte genau, wie es geschehen war. Ja, der Sahib sei gesund und ein vorsichtiger Mann gewesen, der nie ein unüberlegtes Risiko einging. Niemand wurde angeklagt, vielleicht, hieß es, habe sich gar niemand an Seil und Ausrüstung zu schaffen gemacht, vielleicht waren sie nur nicht gut instandgehalten worden. Karma.
Bis auf die nepalesischen Führer kamen alle zwölf Alpinisten der Gruppe aus Hongkong: Freunde und Geschäftspartner, Engländer, Chinesen, ein Amerikaner und zwei Japaner. Linbar war nicht dabei.
Unter großem persönlichem Einsatz kletterten zwei Männer, Profitable Choy , ein enorm reicher Direktor von Struan's, und der Japaner Mori sowie ein Führer in die Schlucht hinunter und erreichten David MacStruan, bevor er starb. Sie sagten übereinstimmend aus, daß David MacStruan kurz vor seinem Tod Linbar Struan formell zu seinem Nachfolger ernannt habe. Kurz nachdem die tief erschütterten Teilnehmer nach Hongkong zurückgekehrt waren, hatte Claudia Chen, MacStruans Chefsekretärin, in seinem Schreibtisch ein maschinengeschriebenes Blatt Papier gefunden, das einige Monate zuvor datiert, von David unterschrieben und von Profitable Cho y als Zeuge unterfertigt war und das die Nachfolge bestätigte.
Die schwer getroffene Claudia Chen hatte Gavallan erklärt: »Das sieht dem Tai-Pan überhaupt nicht ähnlich. Er hätte ein so wichtiges Papier nie im Büro gelassen, sondern es zusammen mit allen anderen persönlichen Dokumenten in den Safe im Großen Haus gesperrt.«
Doch das hatte David MacStruan nicht getan. Die Verfügung, die er unmittelbar vor seinem Tod erlassen hatte, sowie der schriftliche Beleg hatten die Nachfolge legalisiert, und so war Linbar Struan Tai-Pan von Noble House geworden. Trotzdem, dachte Gavallan, dew neh loh moh auf Linbar, seine widerliche Frau, seine teuflische chinesische Mätresse und seine korrupten Freunde! Ich könnte immer noch schwören, daß David entweder ermordet oder manipuliert worden ist. Aber warum hätten Profitable Choy oder Mori lügen sollen, sie hatten nichts davon …
Ein plötzlicher Regenschauer durchnäßte Gavallan und riß ihn aus seiner Träumerei. Sein Herz pochte immer noch heftig, und er verwünschte sich, weil er die Beherrschung verloren hatte. »Du bist ein Idiot, du hättest ihn wie immer gängeln können. Du mußt noch jahrelang mit ihm und ähnlichen Leuten zusammenarbeiten – du bist genauso daran schuld«, sagte er laut und fuhr murmelnd fort: »Der Kerl hätte keine Bemerkung über Maureen machen sollen …« Sie waren seit drei Jahren verheiratet und hatten eine zweijährige Tochter. Seine erste Frau Kathy war vor neun Jahren an multipler Sklerose gestorben.
Er blinzelte in den Regen und sah, wie der Rolls aus dem Tor fuhr und verschwand. Das mit Avisyard ist verdammt schade, dachte er. Er erinnerte sich an die guten und auch an die weniger guten Zeiten, die er dort mit Kathy und den gemeinsamen Kindern Scot und Melinda verbracht hatte. Schloß Avisyard war der weitläufige, über tausend Hektar große Stammsitz der Familien Struan und Dunross. Schade, daß Maureen, die kleine Electra und ich nie dort wohnen werden, jedenfalls solange Linbar Tai-Pan ist. Ein Jammer, aber so ist das Leben.
Er betrat das Gebäude und ging in sein Büro.
»Hi, Liz«, begrüßte er seine Sekretärin, eine gutaussehende Eurasierin Mitte 50, die 1963 mit ihm aus Hongkong gekommen war und alle Geheimnisse von Gavallan Holdings, seiner
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