Witch & Wizard 1 - Verlorene Welt (German Edition)
ahnungsloses Gesicht auf. Das haben die meisten Muskelberge sehr gut drauf, vor allem die, die in der Regel wirklich ehrlich sind. Ich muss es wissen – ich muss Whits Masche seit meiner Kindheit ertragen.
»Dieses Mädchen wurde gerade erst als Tugendstern des Bezirksführers ausgezeichnet«, verkündete Jonathan. Auch kein schlechter Schauspieler.
»Vielleicht … vielleicht bildet Mrs Highsmith sich das nur ein?«, fragte ich. »Vielleicht hat sie Halluzinationen? Könnte das sein? Hmm, Mrs Highsmith? Haben Sie Visionen ?«
Jetzt richteten sich alle Augen auf die Alte und ihre zwielichtigen Freundinnen. Mrs Highsmith wurde feuerrot. »Dann testet sie eben!«, krähte sie mit ihrer lauten, schrillen Stimme.
»Ich lasse mich gerne testen«, sagte ich sofort. »Wenn Sie sich auch testen lassen.«
Es war mucksmäuschenstill. Alle warteten auf Mrs Highsmiths Reaktion, während ich immer wütender wurde. Die Alte wusste doch, was es bedeutete, anders zu sein – also warum schwärzte sie mich an?
» Sie ist hier die Hexe, nicht ich!«, rief Mrs Highsmith.
Die Gäste wurden unruhig. Ein misstrauisches Gemurmel erhob sich.
In Gedanken beschwor ich ein Bild von Mrs Highsmiths Tisch herauf. Auf der Serviette neben dem Teller lag eine Gabel …
»Mit solchen Leuten redet man nicht, sagt mein Dad immer«, meinte Jonathan, während er von seinem Hocker rutschte und den Rückzug antrat. Auch Whit und ich standen auf. »Kommt, Leute. Hier gefällt’s mir nicht. Wir sollten den Laden melden.«
Im selben Sekundenbruchteil sah ich die Gabel vor mir. Ich spürte sie. Ich wusste , was ich damit anstellen musste.
Schon schwebte die Gabel in die Höhe und sauste durch die Luft – geradewegs auf mein Gesicht zu.
»Hilfe!«, kreischte ich und riss die Hände hoch. »Oh Gott, helfen Sie mir doch! Bitte!«
Die Gabel traf mich am Handrücken, leider etwas fester als beabsichtigt. Ich wimmerte gequält, und der Plan ging auf: Die Gäste des Schnellrestaurants waren außer sich vor Schreck und Zorn.
»Warum will sie mir wehtun?«, quiekte ich. »Wie hat sie das gemacht? Das ist doch gegen die Natur! Sie wollte mich mit einer Gabel erdolchen! Mit einer fliegenden Gabel!«
»Ruft den Sicherheitsdienst!« Ein Mann sprang von seinem Platz auf. »Die Hexe hat das Tugendstern-Mädchen verletzt!«
» Sie ist die Hexe, nicht ich!«, kreischte Mrs Highsmith noch einmal, als sie von der Menschenmenge eingekreist wurde.
Zum ersten Mal verspürte ich einen winzigen Anflug von Schuldgefühlen, weil ich meine Magie eingesetzt hatte.
Vielleicht war Mrs Highsmith wirklich nur eine hilflose, griesgrämige alte Dame.
Aber das bezweifelte ich.
Wisty
Der Barmann überflog eine Infografik, so ähnlich wie diese Erste-Hilfe-Plakate, die einem zeigen, was bei einem Herzstillstand zu tun ist. »Fesselt ihre Arme, um die Durchblutung abzuschnüren!«, schrie er dann. »Und knebelt sie, damit sie keine Zauberformeln mehr sprechen kann!«
Währenddessen schoben wir uns langsam aus der Tür. Draußen blickten wir uns bei jedem Schritt nervös um. Jaulende Sirenen näherten sich, immer schneller und schneller.
Ich sah, wie Mrs Highsmith von den Gästen an die Fensterscheibe gepresst wurde. Als improvisierten Knebel hatten sie ihr ein gutes Dutzend Papierservietten in den Mund gestopft. Irgendwie tat sie mir leid.
Die Alte bemerkte meinen Blick, starrte mich einige Sekunden lang giftig an – und fing an zu leuchten , genau wie ich in der Klinik. Ich war erleichtert. Wenigstens hatte mich mein Instinkt nicht getäuscht. Sie war eine Hexe.
Da tat sie etwas, womit ich nicht gerechnet hätte: Sie winkte uns zu. Als wollte sie uns auffordern, hier zu verschwinden. War sie doch auf unserer Seite?
Und es wurde immer besser. Die braven Bürger, die Mrs Highsmith attackierten, hoben auf einmal vom Boden ab wie riesige Luftballons. Dann wurden sie nach hinten geschleudert, weg von der Hexe und ihren Hexenfreundinnen. Sie flogen Rollen und Loopings und verschwanden in den Tiefen des Restaurants. »Hilfe!«, schrien einige. »Hilfe!«
Ohne den Blick von mir abzuwenden, zog Mrs Highsmith sich gemütlich die Papierservietten aus dem Mund, während ihre Freundinnen weiter in aller Ruhe ihre Sandwiches verspeisten und an ihrem Tee nippten. Dann – und das war das Merkwürdigste überhaupt – deutete Mrs Highsmith mit der rechten Hand auf mich, nur mit dem Daumen und dem knorrigen Zeigefinger. Wollte sie mir ein Zeichen
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