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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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Fahrgäste. Die Leute stehen an den verschneiten Straßen und winken den Taxis mit Handschuhen und Spazierstöcken zu, als ob sie in einer Großstadt wären. Keiner von ihnen benutzt ein Telefon. Die Stille in der Zentrale ist er gewohnt. Abends passiert nicht viel, tagsüber dagegen steht das Telefon mit seinen zwanzig Tasten und noch mehr Funktionen nie lange still. Marco H. geht zu seinem Platz, setzt sich, stützt das Kinn in beide Handinnenflächen und starrt das lautlose Gerät an, bis ihm die Augen tränen. Als er die Augen schließt, ist er nicht müde, sondern ihm ist lediglich klar, dass er sie nicht mehr offen lassen muss, um den Apparat zu sehen. Der anthrazitfarbene Siemens 805 S erscheint in seinem Kopf klar und deutlich vor einem hellen, neutralen und weitaus ansprechenderen Hintergrund, als es die Rigipswand oder der alte Schreibtisch sein können. Er erkennt die zahllosen Gebrauchsspuren auf dem Gerät, den Staub an den Innenseiten der Tasten und die Kratzer, die die langen Fingernägel der Frau vom Chef an schlechten Tagen darauf hinterlassen haben. Als er auf dem Apparat sogar erste Spuren ausfindig macht, für die er selbst verantwortlich ist, kann er ein Lächeln nicht unterdrücken. Ein Papierschnipsel in einer Ritze. Wenn er die Hand ausstreckt, könnte er den Papierschnipsel aus der Ritze fingern, aber er begnügt sich vorerst damit, den Apparat vor seinem inneren Auge zu belassen und sich so gut wie nicht zu bewegen.
    Käme einer der Fahrer in die Zentrale und würde ihn fragen, woran er heute alles gedacht hat, bekäme er eine prompte und detaillierte Antwort von der Lust auf den ersten Schluck Kaffee bis zum Ekel vor der Leberwurst. Man könnte ihn alles Mögliche fragen, und er würde antworten. Natürlich wäre der Apparat sofort verschwunden, aber solange niemand etwas fragt, ist der Apparat, den er mit geschlossenen Augen sieht, ein Telefon in seinem Kopf, das jeden Moment klingeln könnte. Und was wäre das für ein Klingeln? Ein schrilles, in viel kürzeren als den gewohnten Intervallen, als säße der Anrufer ein Zimmer weiter und könne keine einzige Sekunde länger warten. Und dann klingelt es tatsächlich, schrill und in viel kürzeren Intervallen. Marco H. hat sich nicht erschreckt, aber so prompt kommt das Klingeln doch unerwartet, und es dauert einen Moment, bis er den Hörer in der Hand halten kann.
     
    »Taxiruf 13 49, guten Tag.«
    »...« (Diesmal hört man ein leises Rauschen irgendwo in der Tiefe der Verbindung.) »Hallo?«
    »...« (Das Rauschen ist kein Wittgensteiner Rauschen, es kommt von weiter her.)
    »Hallo? Hier Taxiruf 13 49, was kann ich für Sie tun?«
    Wie die allermeiste Zeit befindet sich der Mann, dessen Türe am Tage stets geschlossen bleibt, in seinem mit technischem Gerät und flimmernden Bildschirmen vollgestopften Zimmer. Fenster und Tür sind zu. Er sitzt in einer Ecke des Raumes, und da er zum Telefonieren keinen Hörer an sein Ohr halten muss, hat es den Anschein, als spräche er bestenfalls mit einem der Bildschirme. Seine langen, zunehmend verfilzten Haare hat er zu einem dicken Zopf zusammengeknotet, und der dunkle Bart verbirgt den Großteil seines noch jugendlichen Gesichts. Seine Kleidung ist im Hinblick auf Bequemlichkeit gewählt, und er hat sie schon lange nicht mehr gewechselt. Der ganze Raum stinkt, aber da die Tür geschlossen ist, gibt es niemanden, der sich daran stört.
    Das Zimmer ist ein enges Rechteck, in dem immer nur eine Person von der einen schmalen Wand zur anderen gehen kann. Achtet man während des kurzen Weges von der Tür zum Fenster auf den feucht glänzenden, stark abgeblätterten Putz an den Längswänden, erstaunen die Kraterlandschaft als solche und die Risse, die diese wie Flüsse durchziehen. Irgendwo ist ein Spülbecken, daneben liegt ein Wäscheberg, woanders steht ein Bett. Die Bildschirme tauchen den Raum in grünliches Licht, in dem Staub wie grüner Pelz aussieht. Ein paar der Geräte geben leise Geräusche von sich, dem Rauschen in der Leitung nicht unähnlich. Marco H. wird etwas nervös, und für einen kurzen, panischen Moment überlegt er, einfach aufzulegen, verscheucht den Gedanken aber sofort wieder.
    »Hallo? Hier Taxiruf 13 49, was kann ich für Sie tun?«, versucht er es, nicht sonderlich einfallsreich, noch einmal.
    »... Was kann ischfür Sie tun? ... Ich habe dir immer gerne zugehört, wenn du Deutsch gesprochen hast.«
    Er weiß sofort, wessen Stimme das ist, auch wenn er diese Stimme noch nie

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