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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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»Weißt du, wie es ist, keine Luft mehr zu bekommen? Das passiert unterhalb des Kehlkopfes, da, wo die Muskelstränge unter dem Knochen verschwinden. Plötzlich steckt dir an genau der Stelle ein Tennisball im Hals. Du sitzt in der einen Ecke, und in einer anderen Ecke sitzt etwas anderes. Es ist groß und dunkel da, wo du bist, du siehst die Hand vor Augen nicht, aber du weißt, dass noch etwas anderes da ist. Du hast alles verbarrikadiert, aber trotzdem ist da was und schaut dich an, und du kannst die verdammten Augen nicht mal sehen. Selbst wenn du atmen könntest, jetzt würdest du dich nicht trauen zu atmen. Und irgendwann hörst du es flüstern: Du bist dabei zu ersticken, weil du dich nicht gewaschen hast, weil du Läuse hast und den Leuten nicht ins Gesicht sehen kannst, weil du zu selten vor die Tür gehst und nicht einmal ein Haustier besitzt. Du erstickst, weil du kein Auto fährst, keinen Sport machst und keinen Sex hast. Du erstickst, weil du es nicht geschafft hast, nicht zu ersticken. Und weil du das ganz genau weißt, schwillt der Tennisball in deinem Hals weiter an.«
    Es ist noch früh in Montreal, das matte Licht der Straßenlaternen zwängt sich durch die Jalousie, ohne den im Raum vorherrschenden grünen Schimmer der Bildschirme für das bloße Auge erkennbar zu verändern. Der Mann, dessen Türe sich am Tage niemals öffnet, hat während des Gesprächs seinen Blick nicht von dem linken der drei Bildschirme abgewandt. Er hat sich, von der Gesichtsmuskulatur abgesehen, überhaupt nicht bewegt. Auf dem linken Bildschirm sieht man Marcos alte Küche, und es stimmt, der neue Mieter hat nichts verändert, und von hier aus betrachtet sieht es aus, als würden die Wände bläulich schimmern. In der Küche ist niemand, und wenn man genau hinhört, kann man dank der sensiblen Mikrophone den Kühlschrank naturgetreu brummen hören. An einer der Längswände bewegt sich ein kleiner grüner Käfer in Zeitlupe auf eine Ecke zu, ohne zu wissen, dass man ihn dabei beobachtet.
    In der Zentrale, hinter seinem Rücken, weit weg von dem Käfer, hört Marco H. ein Geräusch, wie von einem Tier, das er nicht kennt. Der Mann, dessen Türe sich tagsüber nicht öffnet, reagiert sofort.
    »Wenn du irgendetwas brauchst, egal was, und es könnte immer sein, dass du etwas brauchst, dann ruf mich an.«
    Nachdem er ihm die Nummer durchgegeben hat, wird das Gespräch, wie alle anderen, mit einem Klick in der Leitung beendet. Marco H. bleibt nicht die Zeit, an die Konsistenz von langsam auftauendem Rotz, das zugewachsene Gesicht des Mannes, dessen Türe sich tagsüber niemals öffnet, oder Tennisbälle in Hälsen zu denken. Fred räuspert sich nun schon zum dritten Mal. Für einen kurzen Moment scheint der Fahrer irritiert, fängt sich aber schnell wieder und geht mit langen Schritten quer durch den Raum zur Küchenzeile. Im Gegensatz zu den anderen ist Fred von dem Neuen nicht überzeugt. Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass einer wie Marco H. einen solchen Job lange machen kann. Fred ist wie Günther etwas übergewichtig. Er trägt eine zu große, eckige Brille, die seine Augen vergrößert. Dadurch hat er eine oberflächliche Ähnlichkeit mit Madame Lapointe, die sofort verschwinden würde, wenn beide ihre Brillen abnähmen. Vom Alter her könnte er ihr Sohn sein. Er vierzig, sie sechzig. Seit ein paar Jahren arbeitet er als Taxifahrer, davor hat er jahrelang in einer Fabrik einen Halbautomaten bedient. Von einem Halbautomaten nach Jahren wegzukommen ist nicht leicht. Fred könnte derjenige in der Zentrale sein, der seinen Job am meisten zu schätzen weiß. In seiner Freizeit sieht man ihn manchmal im Schlosspark Enten füttern. Oder er trifft sich mit Günther auf ein paar Bier in einer Kneipe. Dann würfeln sie um Runden, meist gewinnt er, weil Günther meist verliert. Der Neue ist ein seltsamer Kerl, aber bisher tadellos. Nur dass es so bleibt, kann Fred sich nicht vorstellen. Jemand wie Günther, der von hier bis an die Wand denkt, glaubt, sie hätten ihr Team bis zur Rente vollständig. So einer wie Marco H. hält einen solchen Job nicht lange durch, da gehört ganz was anderes zu. Fred denkt an seine Zeit an den Halbautomaten. Der Junge dreht jetzt schon durch, nach ein paar Monaten, der fängt jetzt schon an zu spinnen. Noch drei, vier Monate, und der hört auf, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber eins muss man ihm lassen, bisher konnte man sich auf ihn verlassen, alles tadellos. Eigentlich

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