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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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schade, dass er es nicht schafft, aber da kann man wohl nichts machen. Wenn man die Technik nicht beherrscht, beherrscht man sie einfach nicht, davon kann Fred ein Lied singen. Die Fabrik ist voller Wahnsinniger, nur sind die Maschinen so laut eingestellt, dass man den Wahnsinn der Leute nicht hören kann. Wenn du dir die Gesichter anschaust, kannst du es sehen. Die Lippen, ein andauerndes leises Gekeife wie hysterische Karpfen. Am schlimmsten ist es bei denen, die ihre Lippen gar nicht bewegen.
    Fred ist ein Vollblutfahrer, er macht fast alles mit dem Auto, eine Packung Milch holen oder einen Brief zur Post bringen. Manchmal fährt er auch einfach so durch die Gegend. Autofahren beschäftigt den Kopf auf angenehme Weise. Fred ist keiner, der sich mit den Fahrgästen unterhalten muss, die soziale Seite des Jobs interessiert ihn nicht. Ein Buch mit Taxigeschichten ist von ihm nicht zu erwarten. Wenn man fährt, hat man genug zu tun, da muss man sich nicht groß unterhalten, von Selbstgesprächen ganz zu schweigen. Fred hört zwischendurch Radio, und wenn er allein im Wagen ist, singt er hin und wieder bei dem einen oder anderen Lied leise mit. Das Sich-Gebärden, Laut-Mitgröhlen, In-der-Nase-Bohren, Sich-Schminken, Debil-vor-sich-hin-Grinsen anderer Fahrer ist ihm fremd. Wenn er fährt, konzentriert er sich auf das Fahren und hampelt nicht, in Gedanken bereits bei einer ganz anderen Tätigkeit, hinter dem Steuer herum. »Hast du Vokabeln geübt?«
    Da Marco H. nicht sofort antwortet, winkt Fred ab und wechselt großzügig das Thema:
    »Ach, lass mal. Übrigens, ich habe deine Großtante gekannt. Eine sehr nette alte Dame. Na ja, kennen? Wie man einen Fahrgast eben kennt. Sie ist jeden zweiten, dritten Tag in die Stadt gefahren, sie war eine Stammkundin. Ist immer unten an der Hauptstraße eingestiegen und wollte kurz hinter der Stadtgrenze auf dem Parkplatz vom Wittgensteiner Hof wieder aussteigen. Das ist nur eine kurze Strecke, aber wenn man die oft genug zusammen fährt, hat man mit der Zeit das Gefühl, man kennt sich. Ich habe sie auch öfter im Park getroffen. Wir haben uns gegrüßt und ein, zwei Mal unterhalten. Sie war immer in Begleitung eines Mannes. Interessiert dich das überhaupt?«
    »Doch, natürlich«, erwidert Marco H. noch etwas benommen von dem Gespräch mit dem Mann, dessen Türe sich tagsüber nie öffnet, »ich weiß fast nichts von ihr. Vor allem nichts aus ihren letzten Jahren.«
    »Den Mann kenn ich nicht, aber er wohnt direkt neben dem Wittgensteiner Hof. Ich habe ihn auch schon gefahren. Als Taxifahrer weiß man, wo die Leute wohnen. Die letzten Jahre also. Ich würde sagen, die beiden waren so was wie ein Paar. Wenn du mehr über deine Großtante wissen willst, dürfte der Mann die richtige Adresse sein. Hör mal, trinkst du einen Kaffee mit?«
    »Gerne.«
    »Mal unter uns, wie hältst du den Job eigentlich aus? Die ganze Zeit hier am Telefon rumsitzen.«
    »Ich weiß nicht, es geht nicht ums Aushalten.«
    »Da hast du ganz recht, mein Junge. Wenn es ums Aushalten geht, ist es schon zu spät. Anders gefragt, was gefällt dir an dem Job?«
    »Ich habe früher fast nie telefoniert, hat sich nicht ergeben, ich habe nicht mal ein Telefon besessen. Die letzte Zeit habe ich mir viele Konzerte angeschaut, hab gelesen und bin spazieren gegangen. Das hier in der Telefonzentrale ist mal was anderes für mich.«
    »Hm!« Fred nickt verständnisvoll und geht zu dem Kännchen aus Emaille, das auf dem Gaskocher wartet. Der Kaffee, den sie kurz darauf trinken, ist stark und heiß und schmeckt ihnen so gut, dass keiner mehr ein Wort sagen muss.
     
    +++
     
    Der Neue ist dir nicht ganz geheuer. Seit er da ist, bist du seltener in der Zentrale. Leute wie der wissen nicht mal, wie viel Platz sie einnehmen. Sie sitzen rum und füllen den ganzen Raum aus, ohne es zu merken. Da bleibst du lieber in deinem Wagen, bis der Restwärmeschalter nichts mehr hilft und die Kälte dich hineintreibt. In der Zentrale wartet schon der Telefonist: der Rücken wasserwaagengerade, den Blick fest auf das Telefon gerichtet. Du hast immer den Eindruck zu stören, die Hilfskraft, und mit nichts anderem hast du es hier zu tun, in ihrer ach so wichtigen Tätigkeit zu stören. Unnormale nehmen viel Raum ein, das ist quasi die Definition von unnormal. Wie konzentriert er dasitzt, an seinem Schreibtischchen. Wie er sich mir nichts, dir nichts in die Zentrale hereingedrängt hat, mit seiner Art, auf jeden Anruf zu warten, als gäbe es

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