Wittgenstein
Worte hat formulieren hören. Es ist eine ruhige Stimme, fast ohne Quebecer Akzent.
Der Mann, dessen Türe am Tage verschlossen bleibt, erklärt zunächst, warum er die direktere Kommunikation mit Hilfe des Telefons einem Briefwechsel vorzieht. Danach stellt er fest, dass Marco H. es in Europa gut angetroffen hat und die Dinge sich für ihn günstig entwickelt haben. »Ja«, gibt der gerne zu, und der Mann, dessen Türe am Tage verschlossen bleibt, freut sich aufrichtig.
»Ihr habt da auch einen schönen, kleinen Winter in Wittgenstein.« Er spricht das Wort langsam aus und betont jede Silbe. Wittgenstein.
»Das kann man nun wirklich nicht miteinander vergleichen«, muss Marco H.
protestieren.
»Nein, nein, natürlich nicht, da hast du ganz recht«, beeilt sich der Mann ihm zuzustimmen. »Ganz so unwirtlich wie bei uns ist es sicher nicht. Im Winter komme ich mir fast schon normal vor. Eigentlich bleiben alle zu Hause, draußen hält man es vor Kälte kaum aus. Aber du kennst das ja. Auf den Straßen gibt es dieser Tage nichts groß zu sehen. Höchstens ein paar Autos, die die Laval bis runter auf die Sheerbrooke rutschen und da in den Gegenverkehr geraten. Die Fahrer bremsen jedes Mal auf der Höhe unseres Hauses ab, und wenn ich zufällig durch die Jalousie blicke, kann ich wieder eins der Autos rutschen sehen. Die Wagen zucken mit ihrer Schnauze hin und her, als suchten sie verzweifelt eine Möglichkeit, stehen zu bleiben, einen rettenden Anker. Als wollten sie um alles in der Welt einen Blechschaden auf der Rue Sheerbrooke verhindern. Es ist, als hätten sie einen eigenen Willen, und man würde dabei zusehen, wie der durch die Unabänderlichkeit der äußeren Umstände gebrochen wird. Durch die Fensterscheibe hört man wenig, aber ich stelle mir vor, wie der Motor in solchen Momenten laut aufheult. Es ist wie verhext, wenn ich aus dem Fenster gucke, rutscht wieder eins. Wenn sie nicht unterschiedlicher Farbe und Bauart wären, könnte man meinen, es sei immer dasselbe Auto ... Dein Nachmieter? Die Zahnbürste hat eine andere Farbe, das ist auch alles. Er hat nichts verändert, rein gar nichts. Deutet das auf eine interessante Person hin? Auf jemanden, der die schlichte Vollkommenheit der Wohnung erkannt hat und zu schätzen weiß? Im Herbst, wir hatten einen schönen Herbst dieses Jahr, hat er kein einziges Mal auf dem Balkon gesessen. Das muss man sich mal vorstellen! Sogar dein kleiner gelber Kassettenrecorder steht noch auf dem Tisch. Durch den spärlichen Lichteinfall der Verandatür hinten im Schlafzimmer schimmern nachts die Wände in der Küche blau. Erinnerst du dich? Zumindest auf dem Bildschirm sieht es so aus, als wären sie blau. Es sieht sogar aus, als käme das bläuliche Licht aus den Wänden selbst, nachts, wenn zum Rauschen des Kühlschranks Netze gesponnen werden.«
»Ja«, nickt Marco H., »ich glaube, ich erinnere mich. Wie geht es eigentlich Madame Lapointe?«
»Madame Lapointe geht es gut. Madame Lapointe geht es immer gut.« Er könne das nicht wissen, aber so sei es. Madame Lapointe sei nun wirklich jemand, dem es so richtig gut gehe. Erst gestern Morgen habe er mit ihr gesprochen, und es gehe ihr gut. Um Madame Lapointe brauche sich niemand Sorgen zu machen.
»Heute Morgen habe ich ein Pärchen beobachtet. Um das sollte man sich Sorgen machen. Um sieben Uhr morgens waren die mit ihrem zweijährigen Kind, das sie in einem Plastikschlitten hinter sich herzogen, im Park Lafontaine unterwegs. Wohin, war nicht herauszubekommen. Um diese Uhrzeit war es heute hier minus 30 Grad, stell dir das mal vor. Weiß Gott, wohin die wollten. Keine hundert Meter sind sie gekommen, da mussten sie wieder umdrehen. Minus 30 Grad, da kann man schon mal Angst bekommen. Aber das einem die Augen zufrieren? Ich glaube, das waren Franzosen oder Belgier. Die hatten wirklich Angst, dass ihnen die Augen zufrieren. Ich habe gehört, wie der Mann zu der Frau gesagt hat: >Wir müssen zurück, uns frieren die Augen zu.< Der Rotz in der Nase, meinetwegen, aber die Augen, das waren bestimmt Franzosen oder Belgier. Haha!«
»Hahaha!«, auch Marco H. lacht, als freudiges Zeichen der Zustimmung. »Ja, bestimmt aus Frankreich«, denkt er und hört das Rauschen in der Leitung. Gerade will er so etwas sagen wie:
»Ja, aus Frankreich oder Belgien!« oder »Schweiz«, da unterbricht der Mann, dessen Türe am Tage immer verschlossen ist, zum wiederholten Mal das monotone Geräusch, auf dem das Telefonat stattfindet:
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