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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gegenüber hinausging. Obwohl es keineswegs so aussah, war Eddie bemerkenswert tapfer; er hatte Marion so akzeptiert, wie sie war. Und Ruth konnte sich ausmalen, daß ihre Mutter im Sommer 1958 psychisch nicht gerade auf der Höhe gewesen war.
    Halb ausgezogen ging Ruth durch ihre Suite im Stanhope und suchte die angeblich »gute Flugzeuglektüre«, die Eddie ihr in die Hand gedrückt hatte. Sie hatte so viel getrunken, daß jeder Satz aus The Life of Graham Greene reine Verschwendung gewesen wäre, und Sechzigmal hatte sie schon gelesen; schon zweimal, um ehrlich zu sein.
    Bestürzt stellte sie fest, daß es sich bei der »Flugzeuglektüre« anscheinend um eine Art Kriminalroman handelte. Der Titel, Auf dem Heimweg vom Flying Food Circus , stieß Ruth spontan ab. Sowohl Autor als auch Verlag waren ihr unbekannt. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, daß es sich um einen kanadischen Verlag handelte.
    Auch das Autorenfoto wirkte recht obskur; es zeigte die Frau – der unbekannte Autor war eine Frau – im Profil, und das wenige, was man von ihrem Gesicht sah, war von hinten angeleuchtet. Zudem trug sie einen Hut, der einen Schatten auf das der Kamera zugewandte Auge warf. Von ihrem Gesicht war nicht mehr zu erkennen als eine edle Nase, ein kräftiges Kinn und ein markanter Wangenknochen. Ihr Haar, soweit es unter dem Hut zum Vorschein kam, konnte ebensogut blond wie grau oder fast weiß sein. Wie alt sie war, ließ sich unmöglich feststellen.
    Dieses Foto war ein Ärgernis, und es überraschte Ruth keineswegs, als sie las, daß es sich bei dem Namen der unbekannten Autorin um ein Pseudonym handelte. Eine Frau, die ihr Gesicht verbirgt, verschanzt sich natürlich auch hinter einem Künstlernamen. Das also verstand Eddie unter »guter Flugzeuglektüre«. Schon bevor Ruth zu lesen begann, fand sie das Buch reizlos. Und der Anfang des Romans war nicht viel besser, als Ruth aufgrund ihrer ersten Einschätzung (anhand des Umschlags) vermutet hatte.
    Sie begann zu lesen: »Eine Verkäuferin, die nebenbei als Kellnerin jobbte, war in ihrer Wohnung in der Jarvis Street, südlich der Gerrard, tot aufgefunden worden. Diese Wohnung konnte sie sich nur deshalb leisten, weil sie sie zusammen mit zwei anderen Verkäuferinnen bewohnte. Alle drei verkauften BH s im Eaton Center.«
    Ein Detektivroman! Ruth knallte das Buch zu. Nie von einer Jarvis oder Gerrard Street gehört! Von einem Eaton Center auch nicht! Und weshalb sollte sich Ruth Cole für junge Frauen interessieren, die BH s verkauften?
    Endlich war sie eingeschlafen – es war nach zwei Uhr –, als das Telefon sie aufweckte.
    »Bist du allein? Kannst du sprechen?« fragte Hannah flüsternd.
    »Beides«, sagte Ruth. »Aber warum sollte ich noch mit dir sprechen? Du Verräterin.«
    »Ich habe mir schon gedacht, daß du sauer bist«, sagte Hannah. »Beinahe hätte ich gar nicht angerufen.«
    »Soll das eine Entschuldigung sein?« fragte Ruth ihre beste Freundin. Sie hatte noch nie erlebt, daß Hannah sich entschuldigte.
    »Mir ist was dazwischengekommen«, flüsterte Hannah.
    »Etwas oder jemand?« fragte Ruth.
    »Ist doch Jacke wie Hose«, entgegnete Hannah. »Ich mußte überraschend verreisen.«
    »Warum flüsterst du?«
    »Ich möchte ihn lieber nicht aufwecken.«
    »Soll das heißen, daß du jetzt mit jemandem zusammen bist? Ist jemand bei dir?«
    »Nicht direkt.« Hannah flüsterte noch immer. »Ich mußte in ein anderes Schlafzimmer umziehen, weil er so schnarcht. Ich hätte nie gedacht, daß er schnarcht.«
    Ruth verkniff sich jeden Kommentar. Hannah versäumte es nie, irgend etwas Intimes von ihren Sexualpartnern auszuplaudern.
    »Ich war enttäuscht, daß du nicht zu meiner Lesung gekommen bist«, sagte Ruth schließlich. Doch während sie es sagte, fiel ihr ein, daß Hannah sie niemals mit Eddie allein gelassen hätte, wenn sie dagewesen wäre. Sie wäre zu neugierig auf Eddie gewesen, sie hätte ihn ganz mit Beschlag belegt! »Wenn ich es mir recht überlege«, sagte Ruth zu ihrer Freundin, »bin ich doch froh, daß du nicht da warst. Ich mußte mit Eddie O’Hare allein sein.«
    »Dann hast du es noch immer nicht mit Allan getan«, flüsterte Hannah.
    »Das Wichtigste an diesem Abend war Eddie«, entgegnete Ruth. »Ich hatte noch nie ein so klares und deutliches Bild von meiner Mutter wie jetzt.«
    »Aber wann tust du es endlich mit Allan?« wollte Hannah wissen.
    »Wahrscheinlich, wenn ich aus Europa zurückkomme«, sagte Ruth. »Willst du denn nichts von

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