Witwe für ein Jahr (German Edition)
das ziemlich lange. Ungefähr zwei Stunden.« Sie sah mit Absicht aus dem Fenster, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als ihren Busen zu betrachten.
»Zwei Stunden …«, wiederholte er.
»Das war nur Spaß.« Sie wandte ihm das Gesicht zu und lächelte.
»Ach so …«, sagte Scott Saunders. »Vielleicht könnten wir morgen spielen, nur wir zwei.«
»Erst möchte ich meinen Vater besiegen«, sagte Ruth.
Sie wußte, daß Allan der nächste Mann war, mit dem sie schlafen sollte, aber es beunruhigte sie, daß sie sich ihn und das, was sie tun sollte, bewußt in Erinnerung rufen mußte. Von ihrer Vorgeschichte her war Scott Saunders eher ihr Typ Mann.
Der rötlichblonde Anwalt hatte seinen Wagen in der Nähe des Sportplatzes der Little League in Bridgehampton geparkt; beladen mit Ruths Gepäck, hatten sie etwa zweihundert Meter zu gehen. Scott fuhr mit offenen Fenstern. Als sie in die Parsonage Lane in Sagaponack einbogen, die nach Osten verläuft, eilte ihnen der verlängerte Schatten des Wagens voraus. Im Süden färbte das schräg einfallende Licht die Kartoffelfelder jadegrün; das Meer, das sich deutlich vom blassen Blau des Himmels abhob, funkelte dunkelblau wie ein Saphir.
Auch wenn die Hamptons im allgemeinen überschätzt wurden und längst ruiniert waren, konnte man im frühen Herbst strahlend schöne Spätnachmittage erleben; Ruth genoß das Gefühl, daß die Landschaft wiederhergestellt war, wenn auch nur zu dieser Jahreszeit und um diese nachsichtige Stunde am Spätnachmittag. Ihr Vater hatte wahrscheinlich gerade sein Squashspiel beendet und stand mit seinem besiegten Gegner unter der Dusche oder schwamm nackt im Pool.
Die hoch aufragende, hufeisenförmige Ligusterhecke, die Eduardo im Herbst 1958 gepflanzt hatte, sorgte dafür, daß der Pool am Spätnachmittag völlig im Schatten lag. Sie war so dicht, daß nur hauchfeine Sonnenstrahlen sie durchdringen konnten; winzigen Diamantsplittern gleich sprenkelten sie das dunkle Wasser wie phosphoreszierende Algen – oder Goldmünzen, die auf der Oberfläche dahinschwammen, statt auf den Grund zu sinken. Der Lattenrost ragte ein Stück ins Wasser; wenn jemand im Pool schwamm, hörte es sich an, als klatschte das Wasser an einen Steg in einem See.
Als sie ankamen, half Scott Ruth, das Gepäck in die Diele zu tragen. Der marineblaue Volvo, der einzige Wagen, den Ruths Vater besaß, stand in der Einfahrt, doch als sie rief, bekam sie keine Antwort.
»Daddy?«
Bevor Scott weiterfuhr, sagte er: »Wahrscheinlich ist er im Pool, wie immer um diese Tageszeit.«
»Ja«, sagte Ruth. »Und vielen Dank!« rief sie ihm nach. O Allan, rette mich! dachte sie. Ruth hoffte, Scott Saunders nie wiederzusehen und auch keinen anderen Mann seines Schlages.
Sie hatte drei Gepäckstücke: einen großen Koffer, einen Kleidersack und einen kleineren Koffer, den sie als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen wollte. Als erstes trug sie den Kleidersack und den kleineren Koffer nach oben. Schon vor langer Zeit, mit neun oder zehn Jahren, war sie aus ihrem Kinderzimmer, das an das Elternbad grenzte, in das größte und am weitesten entfernte Gästeschlafzimmer umgezogen, das Zimmer, das Eddie im Sommer 1958 bewohnt hatte. Ruth mochte es, weil es so weit vom Schlafzimmer ihres Vaters entfernt war und ein eigenes Bad besaß.
Die Tür zum Elternschlafzimmer stand einen Spaltbreit offen, aber hier war ihr Vater offenbar nicht – Ruth rief noch einmal »Daddy?«, als sie an der Tür vorbeiging. Wie immer forderten die Fotografien in dem langen Gang im ersten Stock ihre Aufmerksamkeit.
Sämtliche leeren Bilderhaken, an die sie sich deutlicher erinnerte als an die Fotos ihrer toten Brüder, waren wieder verdeckt; nun hingen hier Hunderte nichtssagender Fotos von ihr, aus allen Phasen ihrer Kindheit und Jugend und auch aus späteren Zeiten. Manchmal war ihr Vater mit auf dem Foto, aber meistens hatte er fotografiert. Auf vielen Fotos war Ruth mit Conchita Gomez zu sehen. Außerdem gab es unendlich viele Aufnahmen von der Ligusterhecke. Sie dokumentierten Sommer für Sommer ihr Wachstum: Ruth und Eduardo in feierlicher Pose vor der ehrfurchtgebietenden Hecke. Sosehr Ruth auch wuchs, die in die Höhe schießende Hecke wuchs schneller, bis sie eines Tages mehr als doppelt so groß war wie Eduardo. (Auf einigen Fotos sah Eduardo aus, als hätte er fast etwas Angst vor der Hecke.) Und natürlich gab es auch einige Fotos von Ruth und Hannah aus den letzten Jahren.
Ruth ging barfuß die
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