Witwe für ein Jahr (German Edition)
mit Teppich ausgelegte Treppe hinunter, als sie Geplansche aus dem Swimmingpool hinter dem Haus hörte. Sehen konnte sie den Pool weder von der Treppe noch von einem der oberen Schlafzimmerfenster aus. Sämtliche Schlafzimmer gingen nach Süden, damit man einen Blick aufs Meer hatte.
Außer dem marineblauen Volvo ihres Vaters hatte Ruth kein Auto in der Einfahrt bemerkt, nahm aber an, daß sein derzeitiger Squashpartner so nahe wohnte, daß dieser mit dem Fahrrad gekommen war; und ein Fahrrad wäre ihr nicht aufgefallen.
Die Tatsache, daß Scott Saunders einen so starken Reiz auf sie ausübte, verunsicherte Ruth – ein vertrautes Gefühl. Sie wollte heute keinen anderen Mann mehr sehen, obwohl sie ernsthaft bezweifelte, daß sie irgendeinen anderen Squashpartner ihres Vaters so attraktiv finden würde wie den rötlichblonden Anwalt.
Unten in der Diele packte sie entschlossen ihren großen Koffer und machte sich damit auf den Weg nach oben, wobei sie den Blick durch die offene Eßzimmertür auf den Swimmingpool bewußt vermied. Das Plätschern begleitete sie nur die halbe Treppe hinauf. Bis sie ausgepackt hatte, war der andere Mann, wer immer es war, bestimmt verschwunden. Aber Ruth war ein alter Hase, was das Reisen betraf; sie brauchte nicht lange zum Auspacken. Als sie fertig war, zog sie ihren Badeanzug an. Nachdem der Squashpartner ihres Vaters gegangen war, wollte sie in den Pool springen. Das tat immer gut, wenn man aus der Stadt kam. Anschließend wollte sie sich um das Abendessen kümmern. Sie wollte ihrem Daddy etwas Gutes kochen. Und dann würden sie sich unterhalten.
Noch immer barfuß, ging sie durch den oberen Gang, vorbei am Schlafzimmer ihres Vaters, als ein Windstoß die angelehnte Tür zuschlug. In der Absicht, ein Buch oder einen Schuh zu holen und dazwischenzuklemmen, machte Ruth die Tür wieder auf. Als erstes fiel ihr Blick auf einen wunderschönen, lachsroten Damenschuh mit hohem Absatz. Ruth hob ihn auf. Es war ein italienischer Schuh aus feinstem Leder, hergestellt in Mailand. Dann sah sie, daß das Bett nicht gemacht war; auf den zerwühlten Laken lag ein kleiner, schwarzer BH .
Demnach war ihr Vater also nicht mit einem Squashpartner im Pool. Ruth nahm den BH etwas genauer unter die Lupe. Es war ein Push-up, ein teures Stück. Ruth hätte absolut keinen Grund gehabt, einen solchen BH zu tragen, aber die Frau, die mit ihrem Vater im Pool planschte, mußte es wohl für nötig erachten. Sie hatte einen kleinen Busen, BH -Größe 70B.
In dem Moment erkannte Ruth den geöffneten Koffer, der auf dem Boden lag. Es war ein abgewetzter, brauner Lederkoffer, der sich durch sein weitgereistes Aussehen, seine praktische Unterteilung und die nützlichen Riemen auszeichnete. Er diente Hannah als Handgepäck, seit Ruth sie kannte. (»Mit diesem Koffer sah Hannah aus wie eine Journalistin, noch bevor sie eine war«, hatte Ruth in ihr Tagebuch geschrieben; wie lange das her war, wußte sie nicht mehr.)
Ruth stand so reglos im Schlafzimmer ihres Vaters, wie sie dagestanden hätte, wenn sie Hannah und ihren Vater nackt im Bett angetroffen hätte. Wieder wehte ein frischer Wind vom Meer herein und schlug die Tür hinter ihr zu. Ruth kam sich vor wie in einen Schrank eingesperrt. Hätte etwas sie gestreift (etwa ein Kleid auf einem Bügel), wäre sie in Ohnmacht gefallen oder hätte hysterisch zu schreien begonnen.
Mit aller Kraft versuchte sie sich in jenen Zustand innerer Ruhe zu versetzen, in dem sie ihre Romane schrieb. Für Ruth war ein Roman so etwas wie ein riesengroßes, unaufgeräumtes Haus; und ihre Aufgabe bestand darin, es bewohnbar zu machen, dafür zu sorgen, daß zumindest scheinbar Ordnung darin herrschte. Nur wenn sie schrieb, hatte sie keine Angst.
Wenn Ruth Angst hatte, bekam sie keine Luft mehr. Die Angst lähmte sie. Als Kind brauchte sie nur plötzlich eine Spinne zu entdecken, und schon erstarrte sie auf der Stelle. Einmal war sie von einem unsichtbaren Hund hinter einer geschlossenen Tür angebellt worden; sie war unfähig gewesen, ihre Hand vom Türknauf zurückzuziehen.
Nun verschlug ihr die Vorstellung, daß Hannah es mit ihrem Vater trieb, den Atem. Es kostete sie ungeheure Mühe, sich überhaupt zu bewegen. Anfangs bewegte sie sich sehr langsam. Sie faltete den kleinen schwarzen BH zusammen und legte ihn in Hannahs geöffneten Koffer. Dann machte sie sich auf die Suche nach Hannahs zweitem Schuh – er lag unter dem Bett – und stellte das lachsrote Paar Schuhe neben den
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