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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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seit vier, fast fünf Monaten mit keinem Mann mehr zusammengewesen; sie hatte keine Lust zu warten.
    »Ich möchte Ihnen was zeigen«, sagte sie zu Scott. Sie führte ihn in die Werkstatt ihres Vaters, wo sie die unterste Schreibtischschublade aufmachte. Sie enthielt Unmengen schwarzweißer Polaroidfotos, bestimmt mehrere hundert, und etwa ein Dutzend röhrenförmige Behälter mit einer Haltbarkeitsemulsion, nach der die ganze Schublade und sämtliche Fotos stanken.
    Ruth drückte Scott kommentarlos einen Stapel Fotos in die Hand. Diese Fotos hatte Ted von seinen Modellen gemacht, bevor er sie zeichnete und danach. Er hatte ihnen weisgemacht, er brauche diese Fotos, um an den Zeichnungen weiterarbeiten zu können, wenn die Modelle nicht da waren – zum »Nachschauen«. In Wirklichkeit arbeitete er nie an den Zeichnungen weiter. Er wollte nur die Fotos haben.
    Nachdem sich Scott einen Packen Fotos angesehen hatte, gab Ruth ihm den nächsten. Die Aufnahmen waren ebenso amateurhaft wie die meisten üblen pornographischen Darstellungen; das lag nur zum Teil daran, daß die Modelle keine Profis waren. Ihre ungeschickten Posen ließen darauf schließen, daß sie sich schämten, aber man merkte auch, daß die Fotos hastig und ohne jede Sorgfalt gemacht worden waren.
    »Warum zeigen Sie mir die?« fragte Scott.
    »Törnen diese Fotos Sie an?« wollte Ruth wissen.
    »Du törnst mich an.«
    »Vermutlich törnen sie meinen Vater an«, meinte Ruth. »Das sind seine Modelle, und er hat sie samt und sonders gefickt.«
    Scott blätterte die Fotos rasch durch, ohne sie richtig anzusehen; das war schlecht möglich, wenn man beobachtet wurde. »Ganz schön viele Frauen«, meinte er.
    »Gestern und vorgestern hat mein Vater meine beste Freundin gefickt«, berichtete Ruth.
    »Dein Vater hat deine beste Freundin gefickt …«, wiederholte Scott nachdenklich.
    »Wir sind das, was ein beschränkter Soziologiestudent als funktionsgestörte Familie bezeichnen würde«, sagte Ruth.
    »Ich habe Soziologie studiert«, gestand Scott.
    »Und dann?« fragte Ruth. Sie legte die Fotos wieder in die unterste Schublade. Der Geruch der Emulsion war so penetrant, daß sie würgen mußte. In gewisser Weise roch sie schlimmer als die Sepiatinte. (Ruth hatte die Fotos in der untersten Schreibtischschublade ihres Vaters entdeckt, als sie zwölf war.)
    »Ich habe beschlossen, Jurist zu werden. Das zumindest habe ich aus der Soziologie gelernt«, sagte der rötlichblonde Anwalt.
    »Sind dir auch Gerüchte über meine Brüder zu Ohren gekommen?« wollte Ruth wissen. »Sie sind tot«, fügte sie hinzu.
    »Ich glaube, davon habe ich gehört. Das ist doch schon lange her, oder?«
    »Ich zeige dir ein Foto von ihnen. Sie haben gut ausgesehen«, sagte Ruth und nahm Scott bei der Hand.
    Sie führte ihn die mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Ihre nackten Füße machten kein Geräusch. Der Deckel des Reisdämpfers rappelte; auch der Trockner lief, und man hörte in regelmäßigen Abständen etwas an die rotierende Trommel schlagen.
    Ruth führte Scott ins ehemalige Elternschlafzimmer. Das große Bett war ungemacht, und Ruth konnte auf den zerwühlten Laken fast noch die Kuhlen ausmachen, die Hannah und ihr Vater hinterlassen hatten.
    »Das sind sie«, sagte sie zu Scott und zeigte auf das Foto über dem Bett. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Scott, die lateinische Inschrift über dem Eingang zu lesen.
    »Als Soziologiestudent hast du wohl kaum Latein gelernt«, sagte Ruth.
    »In den Gesetzestexten kommt viel Latein vor«, entgegnete er.
    »Meine Brüder haben gut ausgesehen, findest du nicht auch?«
    »Ja, du hast recht«, sagte Scott. »Heißt venite nicht ›kommt‹?«
    »›Kommt herbei, ihr Jungen, auf daß ihr zu Männern werdet‹«, übersetzte Ruth.
    »Na, das ist vielleicht eine Aufforderung!« meinte Scott. »Mir hat es besser gefallen, ein Junge zu sein.«
    »Mein Vater hat nie aufgehört, ein Junge zu sein.«
    »Ist das sein Schlafzimmer?«
    »Wirf einen Blick in die oberste Schublade, die im Nachttisch«, sagte Ruth. »Komm schon, mach sie auf.«
    Scott zögerte. Wahrscheinlich befürchtete er, daß sich darin noch mehr Polaroidfotos befanden.
    »Keine Sorge, da sind keine Fotos drin«, sagte Ruth. Scott zog die Schublade auf. Sie war voller Kondome in bunten Folienverpackungen, und daneben lag eine große Tube Gleitgel.
    »Also … dann ist es vermutlich sein Schlafzimmer«, sagte er und blickte sich nervös um.
    »Wenn ich je eine Schublade

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