Witwe für ein Jahr (German Edition)
beinahe vergessen!« rief er und händigte Eddie ein dickes, mit einem Gummiband zusammengehaltenes Kuvert und ein Päckchen aus, das so groß und weich war wie ein Laib Weißbrot. Das Päckchen war in Geschenkpapier eingewickelt, auf dem Rücksitz jedoch zerdrückt worden; es sah aus wie ein liegengelassenes Geschenk, das keiner haben wollte. »Das ist für das kleine Kind. Deine Mutter und ich haben daran gedacht«, erläuterte Minty.
»Welches kleine Kind?« fragte Eddie. Er klemmte das Geschenk unters Kinn, weil er für seinen schweren Matchsack und den leichten, kleinen Koffer beide Hände benötigte. So schwankte er an Bord.
»Die Coles haben ein kleines Mädchen. Sie ist vier, glaube ich!« schrie Minty ihm nach. Man hörte das Rasseln der Ketten, das Stampfen der Schiffsmotoren, das stoßweise Tuten des Signalhorns; und von allen Seiten Abschiedsrufe. »Sie haben noch ein Kind bekommen, als Ersatz für die zwei, die gestorben sind!« brüllte Eddies Vater. Das schien sogar den Fahrer zu interessieren, der seinen Muschellaster verlassen hatte und sich jetzt über die Reling des oberen Decks beugte.
»Hm«, sagte Eddie. »Auf Wiedersehen!« rief er.
»Ich liebe dich, Edward!« brüllte Minty O’Hare. Dann begann er zu weinen. Eddie hatte seinen Vater noch nie weinen sehen, aber er war auch noch nie von zu Hause weggefahren. Seine Mutter hatte wahrscheinlich auch geweint, aber er hatte es nicht bemerkt. »Sei vorsichtig!« heulte sein Vater. Die Passagiere, die sich auf die Reling des oberen Decks stützten, sahen gespannt zu. »Nimm dich in acht vor ihr!« schrie sein Vater zu ihm hinüber.
»Vor wem?« rief Eddie.
»Vor ihr! Ich meine Mrs. Cole!« brüllte O’Hare senior.
»Wieso?« schrie Eddie. Die Fähre lief aus, die Docks blieben zurück, das Signalhorn tutete ohrenbetäubend.
»Sie soll nie drüber weggekommen sein!« brüllte Minty. »Sie ist ein Zombie!«
Phantastisch, und das sagt er mir jetzt! dachte Eddie. Aber er winkte nur. Er hatte keine Ahnung, daß ihn der angebliche Zombie von der Fähre in Orient Point abholen würde, denn noch wußte er nicht, daß Mr. Cole seinen Führerschein eingebüßt hatte. Es wurmte Eddie, daß sein Vater ihn auf der ganzen Strecke nach New London nicht hatte fahren lassen – mit der Begründung, der Verkehr, mit dem sie es zu tun hätten, sei »anders als der Verkehr in Exeter«. Eddie konnte seinen Vater an der zurückweichenden Küste von Connecticut noch immer sehen. Minty hatte die Hände vors Gesicht gelegt und sich abgewandt. Er weinte.
Was meinte er mit Zombie? Eddie war davon ausgegangen, daß Mrs. Cole ähnlich war wie seine eigene Mutter oder wie die vielen unscheinbaren Lehrerfrauen, die so ziemlich dem entsprachen, was er über Frauen wußte. Mit etwas Glück besaß Mrs. Cole vielleicht ein wenig von dem, was Dot O’Hare als »unkonventionelle Haltung« bezeichnet hätte, auch wenn Eddie kaum auf eine Frau zu hoffen wagte, die auch nur einen Teil der voyeuristischen Freuden zu bereiten vermochte, für die Mrs. Havelock so reichlich sorgte.
1958 waren Mrs. Havelocks pelzige Achseln und pendelnde Brüste absolut alles, woran Eddie O’Hare dachte, wenn er an Frauen dachte. Bei Mädchen seines Alters hatte er bisher keinen Erfolg gehabt; außerdem flößten sie ihm Angst ein. Da er der Sohn eines Lehrers war, hatte er sich die wenigen Male mit Mädchen aus der Kleinstadt Exeter verabredet, mit denen er in seinen ersten High-School-Jahren unbeholfene Beziehungen angeknüpft hatte. Diese Mädchen waren inzwischen erwachsener geworden und nahmen sich vor den Jungen aus der Stadt, die die Academy besuchten, generell in acht, da sie befürchteten, herablassend von ihnen behandelt zu werden.
Bei schulischen Tanzveranstaltungen am Wochenende empfand Eddie die Mädchen, die nicht aus der Stadt kamen, als unnahbar. Sie reisten mit dem Zug oder in Bussen an, oft aus anderen Internaten oder aus Städten wie Boston und New York. Sie waren viel besser gekleidet und wirkten viel weiblicher als die meisten Lehrerfrauen – mit Ausnahme von Mrs. Havelock.
Vor seiner Abreise aus Exeter hatte Eddie das 1953er PEAN durchgeblättert und sich die Fotos von Thomas und Timothy Cole angesehen – es war ihr letztes Jahrbuch. Was er dabei entdeckte, schüchterte ihn massiv ein. Diese beiden Jungen hatten keinem einzigen Schulclub angehört, aber Thomas war sowohl mit der Fußball- als auch mit der Hockey-Schulmannschaft abgebildet, und Timothy, der seinem Bruder in
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