Witwe für ein Jahr (German Edition)
Knöchel gebrochen hatte –, versuchte Ted ihr zu sagen, daß auch ihr jüngerer Sohn tot war. Nur kam er nicht mehr dazu, es auszusprechen. Bevor er es ihr sagen konnte, entdeckte sie Timmys Schuh. Sie konnte ja nicht ahnen und hätte es sich nie im Leben vorstellen können, daß sich der Schuh ihres Sohnes noch an seinem Bein befand. Sie dachte, es wäre einfach nur sein Schuh. Und sie sagte: ›Schau, Ted, sein Schuh, er wird ihn brauchen.‹ Und ohne daß jemand sie aufgehalten hätte, hinkte sie zu dem Wrack und bückte sich, um den Schuh aufzuheben.
Natürlich wollte Ted sie aufhalten, aber er war in diesem Moment wie gelähmt – zu Stein erstarrt. Er war unfähig, sich zu rühren, sogar unfähig zu sprechen. Und so ließ er es geschehen, daß seine Frau entdeckte, daß sich der Schuh ihres Sohnes noch an seinem Bein befand. Und da begriff Marion allmählich, daß auch Timothy nicht mehr da war. Und das …«, sagte Ted Cole auf die für ihn typische Art, »ist das Ende der Geschichte.«
»Schau, daß du rauskommst«, sagte Eddie. »Das ist mein Zimmer, wenigstens noch für eine Nacht.«
»Es ist schon fast Morgen«, entgegnete Ted. Er zog eine Hälfte des Vorhangs auf, so daß Eddie den ersten schwachen Schimmer des fahlen Dämmerlichts sehen konnte.
»Schau, daß du rauskommst«, wiederholte Eddie.
»Bilde dir bloß nicht ein, daß du mich oder Marion kennst«, sagte Ted. »Du kennst uns nicht, vor allem Marion kennst du nicht.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Eddie. Er sah, daß die Schlafzimmertür offen war; aus dem langen Flur drang das vertraute dunkelgraue Licht herein.
»Es hat bis nach Ruths Geburt gedauert, bis Marion etwas sagte«, fuhr Ted fort. »Ich meine damit, daß sie vorher kein Wort gesagt hat, nicht ein einziges Wort über den Unfall. Doch eines Tages, kurz nach Ruths Geburt, kam sie auf einmal in meine Werkstatt – du weißt, daß sie sonst einen großen Bogen um die Werkstatt macht – und sagte zu mir: ›Wie konntest du zulassen, daß ich Timmys Bein gesehen habe? Wie konntest du nur?‹ Ich habe versucht, ihr zu erklären, daß ich nicht in der Lage gewesen war, mich zu bewegen – daß ich wie gelähmt war, wie versteinert. Aber sie sagte nur: ›Wie konntest du nur?‹ Und danach haben wir nie wieder darüber gesprochen. Ich habe es versucht, aber sie wollte einfach nicht darüber reden.«
»Bitte, geh jetzt«, sagte Eddie.
Im Hinausgehen sagte Ted: »Wir sehen uns morgen früh, Eddie.«
Der eine Vorhang, den Ted zurückgezogen hatte, ließ nicht genug von dem schwachen Dämmerlicht herein, als daß Eddie hätte sehen können, wieviel Uhr es war; er sah nur, daß seine Armbanduhr und sein Handgelenk – sein ganzer Arm – eine kränklich silbergraue Färbung hatten wie ein Leichnam. Eddie drehte seine Hand hin und her, konnte aber keine unterschiedlichen Grauschattierungen ausmachen. Handteller und Handrücken hatten die gleiche Farbe: einheitlich leichengrau, wie die Kissen und die zerknitterten Laken. Er lag wach und wartete auf ein wahrheitsgetreueres Licht. Durchs Fenster betrachtete er den Himmel; er hellte sich allmählich auf. Kurz vor Sonnenaufgang nahm er die Färbung eines acht Tage alten blauen Flecks an.
Eddie wußte, daß Marion viele Stunden solchen Dämmerlichts erlebt haben mußte. Wahrscheinlich sah sie es auch jetzt, denn wo sie auch war, sie schlief bestimmt nicht. Und nun begriff Eddie auch, was Marion in den Zeiten, in denen sie wach war, sah: den nassen Schnee, der auf der feuchten, schwarzen und von reflektierten Lichtern gestreiften Schnellstraße schmolz; die einladenden Neonschriftzüge, die Essen und Trinken und ein Dach über dem Kopf (sogar Unterhaltung) verhießen; die ununterbrochen vorbeiziehenden Rücklichter, die Autos, die sich nur langsam vorbeischoben, weil alle die Unfallstelle beglotzen mußten; die blau kreiselnden Lichter der Polizeifahrzeuge, die gelb blinkenden Lichter des Abschleppwagens und die rot blitzenden des Krankenwagens. Und doch hatte Marion inmitten dieses Chaos den Schuh entdeckt!
»Schau, Ted, sein Schuh, er wird ihn brauchen«, würde sie sich immer sagen hören, während sie zu dem Wrack hinkte und sich bückte.
Was für ein Schuh mochte es gewesen sein? überlegte Eddie. Das Fehlen detaillierter Angaben hinderte ihn daran, das Bein deutlich vor sich zu sehen. Vielleicht ein Après-Ski-Stiefel. Vielleicht auch ein alter Tennisschuh, der ruhig naß werden durfte. Doch die fehlende Beschreibung des Schuhs oder
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