Wizards of Nevermore Bd. 1 - Eine Hexe in Nevermore
Gericht des Hauses, so lauteten jedenfalls die Gerüchte, ein Ultimatum gestellt, um ihn zum freiwilligen Rückzug zu bewegen. Anderen Gerüchten zufolge hatte man ihm viel Geld dafür gezahlt, dass er die dunklen Geheimnisse des Hauses nicht verriet. Und Lucinda hatte das Bett mit ihm geteilt, seine Geschenke angenommen, die naive Geliebte gespielt und dafür die Erniedrigungen durch ihn ertragen.
Das machte ihn krank.
Er griff nach dem schwarzen Ledermantel. In den Nähten pulsierte noch die alte Magie, das Leder erzählte flüsternd von längst vergangenen Zeiten – und Menschen. Es war der Mantel seines Großvaters gewesen, und davor hatten andere Calhouns ihn getragen. Ein roter Drache schimmerte auf dem Rücken, das mächtige Symbol seines Hauses und seiner Familie. Der alte Kauz wollte Gray immer dazu bewegen, den Mantel zu tragen, aber er hatte es nie getan.
Außerdem hätte er sich mit dem Tragen des Mantels zu seinen Pflichten als Hüter bekannt. Aber das war nun mal sein Leben. Auch nach fünf Jahren hatte er nicht das Gefühl, hierher zu gehören, obwohl das seine Heimatstadt war und er alles tat, was sein Amt von ihm verlangte. Trotzdem war er nicht gerade ein geselliger Typ. Er wollte mit niemandem näher zu tun haben, auch nicht mit alten Freunden.
Was das über ihn aussagte, war ihm egal.
Gray schlüpfte in den Mantel und verließ schnell das Haus, bevor er seine Meinung wieder ändern konnte. Normalerweise ging er zu Fuß in die Stadt, aber da er nicht wusste, wohin Lucinda unterwegs war oder wo er sie finden würde – von dem heftigen Sturm mal ganz abgesehen –, nahm er lieber den alten Ford-Pick-up seines Großvaters. Die Kiste war zwar eine totale Rostlaube, fuhr aber zuverlässig und reichte allemal, um Lucinda zum Busbahnhof zu bringen. Er musste ihr nur ein Ticket kaufen, ganz egal, wohin sie fahren wollte. Dann beruhigte sich sein schlechtes Gewissen bestimmt, und sie konnte weiterhin vor Franco fliehen.
Es kam ihm nicht in den Sinn, dass sie eventuell in der Stadt bleiben würde. Sie war eine viel zu erfahrene Hexe, um die negativen Energieschwankungen nicht zu spüren. Wahrscheinlich war sie keine zehn Sekunden in der Stadt gewesen, als schon jeder darüber Bescheid wusste und seine Kommentare dazu abgab. Dabei wusste niemand, was die Hexe Lucinda und den Hüter ihrer Stadt verband. Allein die Tatsache, dass sie eine Rackmore war, reichte den meisten Leuten aus, um ihr zu misstrauen.
Grays Haus, eine viktorianische Villa, stand auf einem Hügel oberhalb des Stadtzentrums. Zwei Straßen führten hierher: eine kleine, die vor seiner Haustür endete, und die Main Street, auf der man ins Stadtzentrum gelangte. Auf die fuhr er nun und bog dann rechts ab. Links wurde die Straße irgendwann zu einem unbefestigten Weg, der nur noch zu drei Farmhäusern führte. Bei der Farm der Familie Gomez endete der Weg schließlich.
Als Gray den Brujo Boulevard erreichte, bog er wieder rechts ab. Er passierte die Schule und schwenkte dann nach links zur Cedar Road. Das war die einzige Straße, die zum Highway führte. Jeder, der mit dem Auto in die Stadt kam oder sie verließ, musste diese Straße nehmen.
Der Sturm war heftiger geworden, und die Scheibenwischer bewältigten nur mit Mühe die Wassermassen. Der Regen fiel in einem dicken silbrigen Schwall. Gegen seinen Willen begann Gray sich Sorgen um Lucinda zu machen. Einmal mehr machte er sich Vorwürfe, beruhigte sich dann aber: Sie ist nicht mein Problem!
War sie aber doch.
Gray verlangsamte den Wagen und spähte durch die Scheibe. Verdammt. Vielleicht war sie in den Graben gestürzt. Oder sie hatte eine Mitfahrgelegenheit gefunden. Oder sie hatte sich irgendwo einen Unterschlupf gesucht. Er fuhr an die Seite und starrte hinaus in den Regen. Eigentlich wollte er keinen Ortungszauber anwenden, durch den er Lucy wieder zurückgeholt hätte. Vielleicht hatte sie ja mittlerweile die Stadt verlassen. Außerdem konnte er sie ohne irgendetwas von ihr gar nicht orten. Ein Haar hätte genügt, aber nicht einmal das hatte er.
Möglicherweise war sie zufällig dem Sheriff begegnet, und sein alter Freund hatte sie als Vorsichtsmaßnahme in magische Quarantäne gesteckt. Taylor Moorelands Vater war vor Jahren mit einer Rackmore-Hexe durchgebrannt – das hatte Edward zumindest in seinem Abschiedsbrief geschrieben. Er war zu feige gewesen, um es seiner Frau ins Gesicht zu sagen, und hatte Sarah mit den sieben Kindern einfach allein gelassen. Taylor war mit
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