Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
dass auch Sie ein Dieb und Gauner sind, diese Möglichkeiten habe ich.
Das war die Message, die er aussandte. Sie wurde nicht gehört, weder von Chodorkowski noch von denen, die ihn als Rammbock gebrauchten. Sie alle waren Geiseln ihres wohlklingenden Szenarios und glaubten, alles würde gut gehen. Denn es schien, als hätten sie Geist und Moral auf ihrer Seite. Wie sich aber dann herausstellte, ist es nicht immer gut, wenn man den Geist auf seiner Seite hat. Ein entwickeltes Gehirn drückt nicht selten auf das Entscheidungszentrum. Und was die Moral betraf, war Putin der gegenteiligen Auffassung. Im Unterschied zu Jelzin war Putin kein alter sowjetischer Parteiarbeiter, sondern ein junger, gieriger Geschäftsmann. Er wollte nicht auf derart primitive Weise manipuliert werden.
Chodorkowski kam ins Gefängnis und wurde Opfer des Kampfes um die Macht zwischen den zwei einflussreichsten Gruppierungen des russischen Machtapparats in seiner Zusammensetzung des Jahres 2003. In diesem Sinne ist der »Fall JUKOS« zweifellos ein politischer.
Warum kam MBCh eigentlich ins Gefängnis?
Aus meiner Sicht hat er einfach nichts dagegen unternommen, dass man ihn einsperrt, obwohl er Schlimmeres hätte verhindern können.
Nach der ersten Zuspitzung des Konflikts am 2. Juli 2003, dem Tag der Verhaftung von Platon Lebedew, hatte Chodorkowski noch unbestimmt lange Zeit (mindestens einige Monate), um eine Einigung zu erzielen und den politischen Konflikt in eine Art Wirtschaftspakt innerhalb des Machtapparats zu verwandeln.
Aber offenbar war MBCh nicht an einer Einigung interessiert. Erstens schätzte er die Wahrscheinlichkeit seines Sieges in diesem Konflikt sehr hoch ein, und zwar wiederum kraft des Gefühls der geistigen und moralischen Überlegenheit. Aber das war es nicht allein. Wenn man sein jahrelanges Verhalten berücksichtigt, ist Chodorkowski ein Mensch, der bei seiner Vorgehensweise stets überdenkt, inwieweit seine physischen und sonstigen Kräfte für einen Sieg ausreichen. Auf seiner Seite standen damals der Leiter der Präsidentenadministration Woloschin und der Ministerpräsident Kassjanow. Das war eine ausreichend starke Rückendeckung, um den Kampf fortzusetzen.
Außerdem herrschte in MBChs Umgebung eine andauernde journalistische Hysterie zum Thema: Kein Schritt zurück! Der Feind wird besiegt! Die Atmosphäre, die diese Hysterie hervorgebracht hatte, spielte ebenfalls eine Rolle für das, was dann mit JUKOS geschah, sowie für die Entscheidungen der Noch-Eigentümer.
Zweitens schien sich Chodorkowski wirklich nicht vorstellen zu können, dass man einen Mann mit seinen Einflussmöglichkeiten und seinem Bekanntheitsgrad hinter Gitter bringen kann. Auf jeden Fall so lange nicht, wie Woloschin im Kreml bliebe. Man muss Chodorkowski deswegen auch nicht den Vorwurf der Naivität machen: Die meisten Vertreter der russischen Elite dachten damals so. Chodorkowski und Woloschin hatten den Gegner ein wenig unterschätzt, nicht hinsichtlich seines Verstands oder seiner Weisheit, sondern was seine Fähigkeit anbelangte, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen.
Igor Setschin und der ihm in dieser Zeit nahestehende Generalstaatsanwalt Russlands, Wladimir Ustinow (Setschins Tochter war mit Ustinows Sohn verheiratet), wussten genau: Man musste Putin nicht fragen, ob Chodorkowski hinter Gitter sollte oder nicht. Zunächst musste man die Sache hinter sich bringen, dann konnte man das Ergebnis verteidigen. Denn die defensive Vorgehensweise ist für den zweiten Präsidenten der Russischen Föderation psychologisch viel organischer als die offensive.
So kam es zu der Situation vom 25. Oktober 2003. Die Verhaftung fand nicht zufällig am frühen Samstagmorgen am Flughafen der Stadt Nowosibirsk statt, deren Zeitzone um vier Stunden von der Moskaus abweicht. Man musste MBCh festnehmen, wenn in Moskau tiefe Nacht und Wochenende war, er also kaum eine Möglichkeit hatte, sich mit jemandem in Verbindung zu setzen und etwas zu ändern.
Hätte sich Chodorkowski nach seiner Verhaftung mit dem Kreml verständigen und das Gefängnis wieder verlassen können?
Theoretisch ja. Praktisch nein.
Indem er ihm den härtesten Schlag verpasste, war Setschin einfach verpflichtet, die Sache zu Ende zu führen, das heißt bis zur völligen Vernichtung von JUKOS und seinem Besitzer. Er handelte streng nach Machiavelli (auch wenn er ihn nicht gelesen hatte): »Man soll den Menschen entweder schmeicheln oder sie sich unterwerfen, denn wegen
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