Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
leichter Demütigungen rächen sie sich, wegen schwerer vermögen sie es nicht. Also muss der Schaden, den man jemand anderem zufügt, so groß sein, dass man keine Rache zu befürchten hat.«
Außerdem wurde Chodorkowski der Weg unfreiwillig durch einen anderen Oligarchen mit politischen Ambitionen versperrt – Wladimir Gussinski. Wie wir uns erinnern, hatte er 2000 im Butyrka-Gefängnis das geheime »Protokoll Nr. 6« über die Übergabe aller seiner Medienaktiva an den Staat im Tausch gegen die Freiheit und eine nicht unbedeutende Summe von 300 Millionen Dollar unterschrieben. Nach seiner Freilassung distanzierte er sich umgehend von dieser Absprache, machte das Geheimprotokoll allgemein bekannt und beschuldigte den Staat der Russischen Föderation faktisch der Abzocke. Und dann gewann er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch noch den Prozess gegen Russland. Putins Leute wollten im Fall JUKOS also nicht in dieselbe Falle tappen wie bei Gussinski.
Selbstverständlich tauchte bald nach MBChs Verhaftung eine Zahl von Vermittlern auf: Sie erdachten verschiedene Möglichkeiten, wie man die Situation entschärfen könne (auf der Grundlage feingesponnener politischer Intrigen innerhalb des Apparats). Zu ihnen zählten nicht nur kleine Gauner, sondern auch einflussreiche, reiche oder zumindest bekannte Leute. Zum Beispiel Wladislaw Surkow, der damals für die Innenpolitik des Kreml verantwortlich war und noch Ende 2003 ernsthaft meinte, er könne Putin zu einem Akt des Erbarmens bewegen (wofür er nur 30 Prozent von JUKOS beanspruchte, nicht mehr). Ebenso gehörte Wladimir Gussinski dazu, der MBCh riet, zu schweigen, nichts aufzuschreiben oder öffentlich zu verlautbaren und vor allem nicht den Politiker herauszukehren, damit man eine geheime Intrige spinnen konnte, die zu seiner Freilassung geführt hätte.
Um eine Entschärfung der Situation bemühten sich auch absolut ehrliche und gewissenhafte Leute, zum Beispiel der ehemalige Vorsitzende der russischen Zentralbank Viktor Geraschtschenko, der 2004 Vorsitzender des Direktorenrats von JUKOS geworden war. Er hatte diesen Posten nicht einfach so angenommen: Der Bankier bekam seinen Segen von einem seiner alten Kreml-Freunde, der ihm zu verstehen gegeben hatte, dass eine glückliche Wendung möglich sei (sprich: die Freilassung Chodorkowskis und die Rettung der Firma im Tausch gegen etwas anderes). Aber Geraschtschenko hatte nicht berücksichtigt, dass in den heutigen Zeiten auch Kreml-Freunde unverantwortliches Geschwätz von sich geben können und dass Setschin fähig war, sich von ihnen zu distanzieren. Schließlich gelang es weder ihm noch irgendjemand anderem, JUKOS zu retten und die Gefangenen zu befreien.
Natürlich hatten Setschin & Co. von Chodorkowski nicht diese intellektuelle und lebenskräftige Widerstandsfähigkeit erwartet. Man meinte, der Ex-Oligarch würde nach seiner Verlegung nach Krasnokamensk irgendwo im Schnee des unendlichen Sibirien verschwinden und endgültig vergessen werden. Auf jeden Fall war eine PR-Kampagne ins Leben gerufen worden, um dem Volk und der Welt diese Botschaft zu übermitteln.
Dass Chodorkowski zehn Jahre nach seiner Verhaftung und acht Jahre nach dem ersten Urteil immer noch auf der russischen und internationalen Bühne steht, ist das große Verdienst des Häftlings und stellt für den Kreml einen Tiefschlag dar. Deswegen ist Putin auch immer so nervös, wenn er – schon seit mehreren Jahren – auf ein und dieselben Fragen zum Fall JUKOS antworten muss.
Aber es kann auch heute keine Einigung zwischen Chodorkowski und dem Kreml zum gegenseitigen Vorteil geben. Das Wichtigste, was Chodorkowski besaß – JUKOS –, hat man ihm schon weggenommen. Ansonsten verfügt Chodorkowski über nichts, was für den Kreml von Interesse wäre. Eine Entscheidung kann nur von einer Seite kommen – aus dem Kreml. Falls die russische Macht es für politisch vorteilhaft hält.
Welches Verhältnis hatten und haben die russischen Eliten zu Chodorkowski?
Wenn man unter Eliten diejenigen Menschen versteht, die an den wichtigsten Entscheidungen beteiligt sind, dann ist ihr Verhältnis wohl eher negativ. Die Meinung des großen Kapitals über MBCh wurde 2005 recht genau von Alfred Koch formuliert, dem ehemaligen Vorsitzenden des Staatlichen Komitees Russlands zur Verwaltung des staatlichen Vermögens, einem der Ideologen der »großen Privatisierung« der 1990er-Jahre und enger Mitstreiter von Anatoli Tschubais:
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