Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
zweihundert Jahre gedauert. Sein Sinn liegt auf der Hand: Für das Imperium war weniger der Nordkaukasus selbst von Bedeutung als vielmehr die verlässliche Verbindung zu dem von ihm kontrollierten Transkaukasus – Georgien, Armenien, das heutige Aserbaidschan. Damit der Hund nicht ausbüchste, brauchte man eine Leine – und zwar die Territorien, die heute zur Russischen Föderation zählen und Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan heißen.
Die Geschichte der jüngeren Tschetschenien-Kriege begann 1991. Zu diesem Zeitpunkt erklärte Tschetschenien, das sich formal Tschetschenisch-Inguschetische Autonome Republik innerhalb des Verbundes von Russland nannte, seine volle staatliche Autonomie. Anführer und Aushängeschild dieses Prozesses wurde Dschochar Dudajew, Generalmajor der sowjetischen Luftstreitkräfte – nicht nur ein beispielhafter sowjetischer Offizier, sondern auch ein typischer Vertreter des »sowjetischen Volkes«. Dudajew hatte einige Jahre im kaukasusfernen Estland gedient, wo er auch eine estnische Frau namens Alla geheiratet und eine nach sowjetischen Maßstäben mustergültige interethnische Familie gegründet hatte. Dann kehrte er in heimatliche Gefilde zurück, um 1991 bei den Republikwahlen zu gewinnen und den Kurs auf eine vollständige Autonomie zu verkünden.
In seiner Entscheidung überwog das Sowjetische sowohl über das traditionell Tschetschenische als auch über das Islamische. Die UdSSR fiel unaufhaltbar auseinander, und der sowjetische Offizier erkannte die verbündete Russische Föderative Republik nicht als legitimen Rechtsnachfolger der Supermacht an. Das hieß: Seine kleine, aber sehr stolze Republik, Erbin des politischen und militärischen Ruhms von Imam Schamil und Scheich Mansur, die dem mächtigen Russischen Imperium im 19. Jahrhundert so viele Probleme bereitet hatten, verdiente die Unabhängigkeit nicht weniger als irgendeine RSFSR. De facto wurde sie ihr auch zugestanden – Ende 1991, Anfang 1992, als die Sowjetunion endgültig zu Gott heimgerufen wurde.
Von diesem Moment an begann der massenhafte Auszug der Russen aus Tschetschenien. Dazu muss man wissen, dass die Hauptstadt Grosny 1991 eine typisch sowjetische Stadt war. Ethnische Russen und Juden machten nicht nur einen bedeutenden Teil der Bevölkerung Tschetscheniens aus, sondern auch der lokalen Elite. In der Zeit von 1991 bis 1993 verwandelte sich Tschetschenien in eine monoethnische Enklave, die hervorragend mit sowjetischen Waffen ausgerüstet und bereit war, bis zu einem siegreichen Ende für die eigene Freiheit zu kämpfen.
Gegen Boris Jelzin wurden schwere Vorwürfe wegen des Verlusts eines Teils des russischen Territoriums erhoben, mit denen er sich nicht abfinden konnte. Also musste er sich etwas ausdenken und handeln. Doch die Vorbereitung entschlossener Schritte würde eine Weile dauern.
Der Kreml hatte viel Zeit damit zugebracht, die islamischen Regionen an der Wolga, Tatarstan (Tatarien) und Baschkortostan (Baschkirien), in den Dunstkreis seiner Kontrolle zurückzuholen. Später, nach dem Beschuss des Parlaments im Oktober 1993, mussten auch noch einige Anstrengungen unternommen werden, um sich die Loyalität des Gouverneurs der Region Primorje (informell das Zentrum des russischen fernen Ostens) Jewgeni Nasdratenko zu sichern, der sich ebenfalls als kleiner Zar einer selbstständigen Region wähnte.
Der Kreml konnte den Gouverneur des Gebiets von Swerdlowsk, Eduard Rossel, in die Schranken weisen, der eine Republik Ural mit unklarem Status innerhalb des russischen Bundes schaffen und in diesem neuen Quasistaat sogar eine eigene Währung namens »Uralfranken« einführen wollte.
Jelzin stand in jenen Jahren also nicht so recht der Sinn nach Tschetschenien. Vielleicht hatte Putins Vorgänger mit seiner animalischen Intuition auch begriffen: Tschetschenien und Dudajew sind ein äußerst schwieriges Problem, das man erst dann angehen kann, wenn die Lösung keinen Tag Aufschub mehr duldet.
Im Frühjahr 1994 wurde Arkadi Wolski zu Dudajew nach Grosny geschickt. Wolski war Präsident des Russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes und Parteiapparatschik mit langjähriger Dienstzeit – früher hatte er im ZK der KPdSU die Abteilung Maschinenbau geleitet. Ende der 1980er-Jahre kümmerte er sich im Auftrag von Michail Gorbatschow um die Regulierung des Konflikts in Nagorny Karabach, einer von ethnischen Armeniern besiedelten, separatistischen Enklave von Aserbaidschan.
Im Namen von Boris
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