Wo bist du und wenn nicht wieso
aufsetzen. Denn dann können sie sich auf das Verbindende konzentrieren und das Störende außer Acht lassen: Verliebte sehen nur den schönen Mund und übersehen den Pickel daneben. Sie betören sich am Duft des Geliebten und sehen über dessen weiße Socken und sprachlichen Akzent hinweg. Verliebte idealisieren scham- und hemmungslos. In diesem Zustand ist alles gut, alles schön und alles perfekt. Und: Verliebte zerren den anderen nicht vor den Schnellrichter und locken ihn nicht in Ego-Fallen, sie heben ihn stattdessen auf einen Thron – Liebe macht eben blind.
Starke emotionale Bindung
Diese Blindheit von Verliebten hat eine wichtige Funktion. Denn würden Partner von Anfang an Störendes in ihre Betrachtung mit einbeziehen, würden sich starke und verbindende Gefühle gar nicht erst aufbauen. Klarsichtigkeit hätte zur Konsequenz, dass es nicht zu Liebesbeziehungen kommen würde, jedenfalls nicht zu derart intensiven und gefühlsbetonten Beziehungen, wie sie heute von den meisten Menschen gewünscht werden. Man kann deshalb ohne Übertreibung von der Gnade der Blindheit sprechen. Hat es zwei erst einmal erwischt, dann stecken sie in einem schönen Schlamassel. Denn Verliebtheit bindet Partner derart fest aneinander, dass sie nicht voneinander loskommen – selbst dann, wenn sie es wollen.
Wenn sie eine Weile zusammen sind, kommen auch junge Verliebte in die Anbahnungsphase. Doch auch dann unterscheidet sich ihr Verhalten noch gehörig von dem suchender Singles. Während Letztere zügig überprüfen, ob es passt, stellt das für unschuldig Verliebte in der Regel ein Tabu dar. Sie machen in den ersten Monaten, manchmal noch wesentlich länger, einen großen Bogen um den Alltag. Sie schmieden nicht sofort konkrete Pläne, sie ziehen nicht sofort zusammen, sie nehmen nicht sofort einen gemeinsamen Kredit auf und planen nicht gleich gemeinsame Kinder. Sie gehen respektvoll mit Unterschiedlichkeit um. Die Alltagstauglichkeit des Partners, seine Passung für ein gemeinsames Leben, wird erst nach und nach und sehr vorsichtig überprüft, beispielsweise, indem einer von Kindern oder einem eigenen Haus schwärmt und dann die Reaktion des anderen beobachtet.
Verliebte bewegen sich wie auf dünnem Eis: Sie prüfen Schritt für Schritt dessen Tragfähigkeit. Sollte sich das Eis schließlich als stark und tragfähig erweisen, weil sich gemeinsame Träume und Lebensvorstellungen zeigen und vieles zusammenpasst, ist diese Passung selten vollständig. Manches kommt zusammen, anderes nicht. Aber die starke emotionale Bindung ermöglicht es, Unterschiede auszuhalten. Zwar sind Konflikte und Auseinandersetzungen im Lauf der Beziehungsanbahnung unvermeidbar, aber da sie sich auf die gemeinsame Liebe stützen, raufen sich die Partner buchstäblich zusammen. Sie stellen ihr Verhalten derart aufeinander ab, dass es irgendwie für beide passt.
Der Eindruck von Passung
Passung ist also auch bei stark Verliebten nicht von Anfang an da, sondern entsteht erst im Lauf einer Beziehung. Von Anfang an da ist lediglich der starke Eindruck , dass es passt, und der ergibt sich aus einer gehörigen Portion Blindheit. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür begegnete mir in einer Fortbildung, die ich für Paarberater durchführe. Eine bis über beide Ohren verliebte Teilnehmerin erzählte mir, sie sei zwar erst zwei Monate mit ihrem Partner zusammen, aber bei ihnen würde alles stimmen, es würde einfach alles passen. Wie konnte sie das wissen? Ich fragte sie, ob sie den Alltag miteinander teilen? Nein, aber demnächst würden sie in eine Wohnung ziehen. Ob sie gemeinsame Kasse machen? Nein, aber das ginge bestimmt. Ob sie Kinder miteinander hätten? Nein, aber das käme bestimmt. Ob sie ähnliche Ansichten und Lebenspläne hätten? Das spiele jetzt keine Rolle.
Das stimmt, die Frau hat Recht, all das spielt jetzt keine Rolle, aber später tut es das garantiert. Dennoch war und blieb die Frau fest von der perfekten Passung überzeugt. Woher nahm sie diese Sicherheit? Aus ihren Gefühlen. Passung ist zu Beginn nämlich nichts weiter als ein starker und sinnvoller emotionaler Eindruck, der es im günstigen Fall ermöglicht, im Lauf der Zeit sein Verhalten aufeinander abzustimmen.
Genügend Bindung entwickeln
Damit will ich keineswegs behaupten, jeder Mensch könne zu jedem anderen eine Passung erreichen. Dazu müsste er sich zuerst verlieben, und das kann er nicht willkürlich tun. Die Gnade der Blindheit wird ihm von seinen unerfüllten
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