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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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unmöglicher Hoffnung wieder erwachen. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich sie so liebe, und auch, warum ich sie bewundere. Als ich zu ihnen kam, hielt ich sie für Opfer, doch sie zeigen mir mit jedem Augenblick, dass sie etwas ganz anderes sind, und sie lehren mich heute weit mehr, als ich ihnen gebe. In Montclair hätte mein Leben keinen Sinn, ich wüsste nicht, was ich damit hätte anfangen sollen. Die Einsamkeit macht ungeduldig, und die Ungeduld tötet die Kindheit. Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich war so allein in dieser Kindheit und Jugend, die wir, so gut wir konnten, zusammen verbracht haben. Ich weiß, ich war sehr ungestüm und bin es immer noch. Dieses Bedürfnis, Etappen zu überspringen, lässt mich in einem Rhythmus leben, den du nicht verstehen kannst, weil er anders ist als deiner.
    Als ich gegangen bin, habe ich etwas Wichtiges vergessen zu sagen: Du fehlst mir sehr, Philip. Ich blättere oft in unserem Fotoalbum, und all diese Bilder von uns sind sehr wertvoll, diese Meilensteine der Zeit sind unsere Kindheit. Verzeih mir, so zu sein, wie ich bin- ungeeignet für ein Zusammenleben.
    Susan
    Times Square. Im Tumult der Menschenmenge, die sich, wie jedes Jahr zu Silvester, auf dem Platz versammelt hat, ist Philip auf eine Gruppe befreundeter Studenten gestoßen. Vier große Zahlen erleuchten die Fassade des New-York-Times-Gebäudes. Es ist Mitternacht, soeben hat das Jahr 1977 begonnen. Ein Konfettiregen mischt sich unter die Küsse der Passanten. Philip fühlt sich allein inmitten des Gedränges. Wie befremdlich sie sind, diese Tage, für die im Kalender »Lebensfreude« vorgeschrieben ist. Eine junge Frau schiebt sich an einer Absperrung entlang und versucht, sich einen Weg durch das Meer von Menschen zu bahnen. Sie rempelt ihn an, drängt sich an ihm vorbei, dreht sich um und lächelt. Er hebt den Arm und winkt, sie antwortet mit einem Kopfnicken, als wollte sie sich entschuldigen, dass sie nicht schneller von der Stelle kommt. Drei Personen trennen sie bereits, sie scheint vom Kamm einer Welle getragen zu werden, die sie aufs offene Meer zieht. Er schlängelt sich zwischen zwei verlorenen Touristen hindurch. Für einen Moment verschwindet ihr Gesicht und taucht kurz darauf, wie um Luft zu holen, für Sekunden wieder an der Oberfläche auf. Er versucht, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Der Abstand zwischen ihnen verringert sich, sie ist jetzt fast in Hörweite inmitten der lärmenden Menge. Ein letzter Schulterstoß, er ist bei ihr und greift nach ihrem Handgelenk. Sie dreht sich um, Überraschung steht in ihren Augen, er lächelt und schreit mehr, als dass er spricht:
    »Gutes neues Jahr, Mary. Wenn Sie versprechen, mir nicht den Arm zu zerkratzen, lade ich Sie auf einen Drink ein.«
    Sie erwidert sein Lächeln und ruft nun ihrerseits:
    »Für jemanden, der von sich behauptet, schüchtern zu sein, haben Sie aber schnell Fortschritte gemacht!«
    »Das war vor über einem Jahr; ich hatte also Zeit.« »Haben Sie kräftig geübt?«
    »Noch zwei Fragen in diesem Getöse, und ich habe keine Stimme mehr! Wären Sie einverstanden, einen ruhigeren Ort aufzusuchen?« »Ich war mit Freunden zusammen, aber ich glaube, ich habe sie definitiv verloren. Wir wollten uns später downtown treffen. Hätten Sie Lust mitzukommen?«
    Philip antwortet mit einem Kopfnicken, und die beiden lassen sich in dem Menschenstrom wie Schiffbrüchige die Straßen hinunter treiben. Am Ende der Seventh Avenue werden sie in die Bleeker Street gespült. Ein letzter Nebenfluss führt sie in die Third Street. Im Blue Note, wo Marys Freunde warten, verzaubert ein Pianist seine Zuhörer mit zeitlosen Jazzrhythmen.
    In den frostigen Stunden des dämmernden Morgens zeugen die Alkoholflaschen in den Papierkörben SoHos von einer ausgelassenen Nacht. Die ganze Stadt schläft ihren Kater aus. Nur vereinzelt durchbricht das Motorengeräusch eines Autos die Stille des Viertels, das noch in seinen Schleier der Trunkenheit gehüllt ist. Mary stößt die Tür von Philips Haus auf. Ein eisiger Wind packt sie am Hals, sie fröstelt und schlägt den Mantelkragen hoch. Sie läuft die Straße entlang, hebt an der Kreuzung die Hand. Ein gelbes Taxi fährt an den Bordstein heran, nimmt sie auf und verschwindet den Broadway hinunter. Am zweiten Januar dieses Jahres hat Errol Garner den Deckel seines Klaviers für immer geschlossen. Philip besucht wieder die Vorlesungen.
    Anfang Februar erhält Susan einen Brief aus Washington.

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