Wo bist du
Verspätete Glückwünsche zum Jahreswechsel von ihren Vorgesetzten und die Aufforderung, die Möglichkeiten für den Aufbau des neuen Flüchtlingslagers in den Bergen zu prüfen. Sie soll einen Finanzplan aufstellen und diesen möglichst bald persönlich der Kommission in Washington vorlegen. Die Regenzeit ist noch nicht zu Ende. Sie sitzt unter dem Vordach ihres Hauses und sieht zu, wie das Wasser das Erdreich wegspült.
Wie jeden Winter kreisen ihre Gedanken unablässig um jene, die in den Bergen ohnmächtig den zerstörerischen Gewalten einer Natur ausgeliefert sind, die ihr Spiel mit dem treibt, was sie in mühseliger Arbeit zu Beginn des Sommers geschaffen haben. In ein paar Wochen werden sie erneut und ohne Murren von vorn anfangen, etwas ärmer noch als in den Jahren zuvor.
Juan schweigt, er zündet sich eine Zigarette an, sie nimmt sie ihm aus der Hand und zieht daran. Die Glut erleuchtet die untere Hälfte ihres Gesichts, sie atmet den Rauch geräuschvoll aus.
»Ist das ein Ticket erster Klasse bei >Air Ganja<, was du da rauchst?« Juan lächelt verschmitzt.
»Ist nur eine Mischung aus hellem und dunklem Tabak, was dem Ganzen diese Würze gibt.«
»Wie Ambra«, sagte sie.
»Keine Ahnung, was das ist.«
»Etwas, das mich an meine Kindheit erinnert, der Geruch meiner Mutter, sie roch immer nach Ambra.«
»Ihre Kindheit fehlt Ihnen?«
»Nur bestimmte Gesichter, die meiner Eltern, das von Philip.« »Warum sind Sie nicht bei ihm geblieben?«
»Hat er dich bezahlt, um mir diese Fragen zu stellen?«
»Ich kenne ihn nicht, und Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Weil ich keine Lust dazu habe.«
»Sie sind sonderbar, Dona Blanca, vor was fliehen Sie nur, um sich bis zu uns zu verirren?«
»Das Gegenteil ist der Fall, mein Kleiner, eben hier habe ich mich wiedergefunden, und überhaupt gehst du mir auf die Nerven mit deiner Fragerei. Glaubst du, das Gewitter wird andauern?«
Juan deutete auf das eigenartige Licht, das am Horizont entsteht, wenn ein aguacero, ein Gewitter, sich entfernt. In höchstens einer Stunde würde der Regen aufhören. Dann würde ein Geruch von feuchter Erde und Kiefern ihre bescheidene Hütte bis in den letzten Winkel erfüllen. Sie würde ihren einzigen Schrank öffnen, damit ihre Wäsche den Duft aufnehmen konnte. Wenn sie sich ein derart riechendes Baumwollhemd überstreifte, lief ihr jedes Mal ein Schauer den Rücken hinunter.
Sie schnippte die Kippe über das Geländer, stand unvermittelt auf und schenkte Juan ein breites Lächeln.
»Spring auf den Dodge, es geht los!«
»Wohin?«
»Hör auf mit deiner Fragerei!«
Der Lastwagen hustete zweimal, bevor er ansprang. Die breiten Räder drehten im Schlamm durch, fanden schließlich an ein paar Steinen Halt, die Hinterachse brach leicht zur Seite aus und schwenkte dann auf die Fahrbahn ein. Schlammgarben spritzten an die Plane. Susan gab noch mehr Gas. Der Wind schlug ihr ins Gesicht, sie strahlte vor Glück und stieß einen gedehnten Schrei aus. Juan kletterte auf den Beifahrersitz. Sie fuhren in Richtung Berge.
»Wohin fahren wir?«
»Die Kleine besuchen, sie fehlt mir!«
»Die Straße ist völlig aufgeweicht, wir kommen da nie hinauf.«
»Weißt du, was unser Präsident gesagt hat? Es gibt Menschen, die die Dinge so sehen, wie sie sind, und die sich fragen, warum. Ich sehe sie so, wie sie sein könnten, und sage mir, warum nicht! Heute Abend speisen wir mit Senor Rolando Alvarez.«
Wenn Kennedy die honduranischen Straßen zur Winterzeit gekannt hätte, so hätte er sicher den Frühling abgewartet, um seinen Sinnspruch zum Besten zu geben. Nach sechs Stunden, als sie die Hälfte der Höhe bewältigt hatten, begann der Lastwagen endgültig zu bocken. Die Kupplung blockierte, und der beißende Geruch, der sich zu verbreiten begann, zwang Susan, sich den Tatsachen zu beugen. Sie würden heute Abend nicht mehr die letzten Serpentinen hinter sich bringen, die sie noch von dem Dorf mit dem kleinen Mädchen trennten, dem kleinen Mädchen, das so viel Platz in Susans Herz erobert hatte. Juan kletterte nach hinten und zog vier Decken aus einem Jutesack.
»Wir werden hier übernachten müssen«, sagte er knapp. »Manchmal bin ich so dickköpfig, dass ich mich selbst nur schwer ertragen kann.« »Keine Sorge; es gibt noch andere, die einen schwierigen Charakter haben.« »Übertreib nicht. Heute ist nicht der Tag der heiligen Susanna; bis dahin ist noch ein wenig Zeit.«
»Warum wollen Sie die Kleine sehen?«
»Was
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