Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Doch vielleicht ist das Schreiben schon eine Art der Bewusstwerdung.
    Vielleicht kommst du ja morgen zurück; dann aber würde ich mir wünschen, nicht auf dich gewartet zu haben, nicht all die Worte zu hören, die du sagen könntest, oder sie einfach ignorieren zu können. Ich komme dich nicht im Frühling besuchen, das war keine gute Idee, auch wenn ich es liebend gern tun würde, doch ich glaube, ich muss auf Distanz zu dir gehen, was du umgekehrt längst tust, wie deine immer seltener werdenden Briefe bezeugen.
    Sei umarmt,
    Philip
    PS: Es ist sieben Uhr morgens. Ich überfliege den gestern Abend geschriebenen Brief beim Frühstück noch einmal. Diesmal will ich dich lesen lassen, was ich bisher in den Papierkorb geworfen habe.
    Wie vieles andere um sie herum, so veränderte sich auch Susan. Das Lager beherbergte inzwischen zweihundert Familien, und der Rhythmus all dieser eben erst vernarbten Leben verschmolz nach und nach mit dem des Dorfes. In jenem Winter wurden Philips Briefe immer rarer, und die Antworten fielen ihr immer schwerer. Das Silvesterfest feierte Susan mit ihrem Team in einem Restaurant von Puerto Cortes. Das Wetter war außergewöhnlich schön, und der feuchtfröhliche Abend endete auf einem Hafendamm. Zu Beginn des neuen Jahres schien das ganze Land seinen alten Elan wiedergefunden zu haben. Im Hafen herrschte erneut geschäftiges Treiben, und seit mehreren Wochen war das Ballett der Kräne, die über den Containerschiffen kreisten, wieder in vollem Gang. Vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit wurde der Himmel von Kondensstreifen der Flugzeuge durchzogen, die die Verbindungen zwischen den verschiedenen Flugplätzen sicherten. Nicht alle Brücken waren wiederaufgebaut worden, aber die Spuren des Orkans waren fast unsichtbar geworden — oder hatte man sich nur an ihren Anblick gewöhnt? Die sternklaren Nächte verhießen ein schönes Jahr und eine gute Ernte. Das Nebelhorn eines Bananenfrachters kündigte Mitternacht an und die Abfahrt nach Europa.
    Am Silvesterabend holte Philip Mary von zu Hause ab. Sie waren zu einem Empfang eingeladen, der von ihrer Zeitschrift im dreiunddreißigsten Stock eines Turms neben dem der New York Times gegeben wurde. Mary trug ein langes schwarzes Kleid unter ihrem Mantel, dazu eine Seidenstola. Sie waren beide gut gelaunt, und obwohl sie hin und wieder den Versuch machten, ein Taxi zu rufen, wussten sie, dass sie an einem Abend wie diesem zu Fuß bis zum Times Square laufen mussten. Die Nacht war sternenklar und für die Jahreszeit mild. Mary lächelte still vor sich hin, während Philip ihr in allen Einzelheiten von den Tricks der Werbung erzählte. An der Kreuzung der 15th Street blieben sie vor einer roten Ampel stehen.
    »Ich rede zu viel, oder?«
    »Warum? Sehe ich aus, als würde ich mich langweilen?«
    »Dazu bist du viel zu höflich. Tut mir Leid, aber ich quelle über von Worten, die ich die ganze Woche zurückhalten musste. Ich habe so viel gearbeitet, dass ich zu wenig mit jemandem gesprochen habe.«
    Sie bahnten sich einen Weg durch die dreihundert Gäste, die sich bereits in den Büros der Redaktion drängten. Das Bufett war schon gestürmt worden, und eine Brigade von Kellnern bemühte sich, es wieder aufzufüllen. Meist mussten diese Soldaten in weißer Livree unterwegs umkehren, da ihre Tabletts schon geplündert waren, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Sich ernsthaft zu unterhalten oder zu tanzen erwies sich als unmöglich, so groß war das Gedränge. Nach etwa zwei Stunden hob Mary die Hand, um Philip, der ein paar Meter entfernt mit Kollegen von ihr diskutierte, ein diskretes Zeichen zu geben. Bei dem Lärm konnte er nicht das geringste Wort verstehen, ihr Zeigefinger aber wies eindeutig in eine Richtung, zur Ausgangstür. Mit einem Kopfnicken bestätigte er den Empfang der Botschaft und kämpfte sich durch die Menge. Eine Viertelstunde später trafen sie sich an der Garderobe. Die Stille, als sie in den Gang mit den Aufzügen traten und die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, war wohltuend. Während Philip auf den Knopf drückte und sich vor die Tür des mittleren der drei Aufzüge stellte, trat Mary an die Fensterfront, die einen grandiosen Blick über die Stadt bot.
    »Warum, meinst du, dass der in der Mitte als Erster kommt, und nicht der rechte oder der linke?«
    »Keine Ahnung, ist eine alte Gewohnheit. Und wenn ich in der Mitte stehe, ist der Weg zu allen drei Aufzügen am kürzesten.«
    Kaum hatte er den Satz zu Ende

Weitere Kostenlose Bücher