Wo bist du
auf die Klingel. Nach wenigen Sekunden summte der Türöffner. Erstaunt stieg er die ausgetretenen Stufen zum dritten Stock hinauf. Die Holzbohlen knarrten unter seinen Sohlen. Als er klingelte, öffnete sich sofort die alte blaue Wohnungstür.
»Hast du jemanden erwartet?«
»Nein, warum?«
»Du hast nicht einmal gefragt, wer unten geklingelt hat.«
»Niemand in ganz New York klingelt so kurz wie du.«
»Du hattest Recht.«
»Wovon sprichst du?«
»Davon, was du neulich gesagt hast. Es stimmt, ich bin ein Trottel. Du bist eine großzügige, kluge, amüsante und hübsche Frau, du machst mich glücklich, und ich bin blind und taub.«
»Auf deine Komplimente kann ich verzichten, Philip!«
»Was ich sagen will, ist, dass es mich halb verrückt macht, nicht mit dir reden zu können, dass ich keinen Hunger mehr habe, seitdem ich nicht mehr mit dir zum Essen gehe, dass ich mein Telefon seit zwei Wochen wie ein Idiot anstarre.«
»Weil du einer bist!«
Er wollte etwas antworten, doch sie hinderte ihn daran, drückte die Lippen auf die seinen und schob ihre Zunge in seinen Mund. Er ließ die Rosen auf den Boden fallen, um sie in die Arme schließen zu können, und wurde sofort in die kleine Wohnung gezogen.
Sehr viel später in der Nacht glitt Marys Hand durch den Türspalt und griff nach dem Blumenstrauß, der noch immer auf der Fußmatte lag.
Die Schule nahm sie immer mehr in Anspruch, ihre Klasse zählte inzwischen durchschnittlich - je nach Belieben des Schulbusfahrers und des Eifers der Kinder - dreiundsechzig Schüler. Sie waren sechs bis dreizehn Jahre alt, und Susan musste ein abwechslungsreiches Programm zusammenstellen, damit sie Lust hatten, am nächsten und übernächsten Tag wiederzukommen. Am frühen Nachmittag aß sie einen Maisfladen in Gesellschaft von Sandra, einer vor wenigen Tagen eingetroffenen neuen Mitarbeiterin. Sie hatte sie in San Pedro abgeholt und innerlich gebetet, dass sie nicht aus einer Maschine mit rot-weißen Tragflächen steigen würde. Vorsichtshalber hatte sie im Innern der Baracke, die als Terminal diente, auf ihre Kollegin gewartet; der gefürchtete Flugkapitän stellte die Motoren seiner kleinen Maschine erst gar nicht ab und blieb im Cockpit sitzen.
Sandra war jung und hübsch. Da sie noch keine Bleibe hatte, sollte sie für ein paar Tage oder Wochen bei Susan wohnen ... Eines Morgens, als sie gemeinsam ihren Kaffee tranken, musterte Susan sie von Kopf bis Fuß.
»Ich rate dir, hier besonders auf Reinlichkeit zu achten. Bei der Hitze und der Feuchtigkeit hast du sonst bald überall Pickel.«
»Ich schwitze nicht!«
»0 doch, meine Liebe! Du wirst wie alle anderen schwitzen, glaube mir. Übrigens, du wirst mir gleich helfen, den Jeep zu beladen. Wir haben heute Nachmittag fünfzehn Säcke Mehl auszuteilen.«
Sandra wischte sich die Hände an ihren Jeans ab und machte sich auf den Weg zum Lager. Susan folgte ihr. Als sie sah, dass die großen Türen weit offen standen, rannte sie los und war noch vor Sandra da. Sie trat über die Schwelle und lief wutschäumend an den Regalen entlang.
»Mist, Mist, verdammter Mist!«
»Was ist los?«, fragte Sandra.
»Man hat uns Säcke geklaut.«
»Viele?«
»Keine Ahnung, zwanzig, dreißig. Wir müssen eine Bestandsaufnahme machen.«
»Das bringt doch gar nichts. Davon kommen sie auch nicht zurück.« »Das bringt was, weil ich es sage und weil ich hier die Verantwortliche bin. Ich muss einen Bericht schreiben. Das hat gerade noch gefehlt!«
»Beruhige dich. Es ändert gar nichts, wenn du dich aufregst.«
»Jetzt sei endlich still, Sandra. Hier hab ich zu bestimmen, und bis auf Weiteres hast du gefälligst deine Kommentare für dich zu behalten.« Sandra packte sie am Arm und näherte ihr Gesicht dem Susans. Auf ihrer Stirn trat deutlich sichtbar eine bläuliche Ader hervor.
»Mir gefällt es nicht, wie du mit mir sprichst, mir gefällt deine ganze Art nicht. Ich dachte, dies sei eine humanitäre Organisation und nicht ein Militärcamp. Wenn du dich für einen Soldaten hältst, dann kannst du deine Säcke allein zählen.«
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt, und Susan konnte schreien, so laut sie wollte, Sandra dachte gar nicht daran zurückzukommen. Den Dorfbewohnern, die sich neugierig vor der Scheune zu versammeln begannen, machte Susan Zeichen mit der Hand, wie um sie zu verscheuchen. Die Männer entfernten sich schulterzuckend, die Frauen bedachten sie mit missbilligenden Blicken. Sie nahm die beiden Säcke, die
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