Wo bist du
Irgendwo unten beherbergte ein Häuschen mit Wellblechdach eine Susan, die am Heiligen Abend und an den zwanzig folgenden Tagen ans Bett gefesselt war.
An den ersten Februartagen kehrte die Sonne zurück. Der Himmel und die allgemeine Stimmung hellten sich gleichzeitig auf. Susan war seit acht Tagen wieder auf den Beinen. Ihr Körper kam zu Kräften, und ihre Wangen hatten ihren gewohnten Farbton. Im Dorf hieß es, ihre »Schlafkrankheit« habe ihr gut getan. Die Bauern hatten sich um das Lager gekümmert, mehrere Frauen hatten sich beim Schulunterricht und in der Ambulanz abgelöst. Die jungen Männer wiederum hatten die Verteilung der Lebensmittel übernommen, die sonst Susan oblag. Alle waren in der letzten Zeit sehr bemüht gewesen, was die Dorfgemeinschaft gefestigt hatte. Susan trat aus ihrem Haus und ging die Hauptstraße entlang. Als sie auf der Höhe der Kinderkrippe angelangt war, kam ihr der Briefträger entgegen. Der Brief, den er ihr aushändigte, war am dreißigsten Januar in Manhattan aufgegeben worden und hatte fast zwei Wochen bis hierher gebraucht.
29. Januar 1979 Susan,
ich komme aus Rio zurück und habe zweimal dein Land überflogen. Ich habe mir vorgestellt, unten liege dein Haus und du würdest vor deiner Tür stehen. Wie ist es möglich, dass ich dich nie besucht habe? Vielleicht einfach nur, weil es nicht sein sollte, weil du es nicht wolltest, weil ich nie den Mut dazu hatte. So weit von mir und doch so nah, und so sonderbar es dir erscheinen mag, du bist die Erste (fast hätte ich geschrieben: meiner Familie), der ich diese Worte schreiben muss. Ich werde heiraten, Susan, am Silvesterabend habe ich Mary einen Antrag gemacht.
Die Hochzeit findet am zweiten Juli in Montclair statt, ich bitte dich, komm. Das ist in einem halben Jahr, und du hast Zeit, es dir einzurichten; diesmal keine Entschuldigung und kein Vorwand. Sei da, ich brauche dich an meiner Seite, du bist das Wertvollste, was ich habe. Ich zähle auf dich.
Ich küsse dich, so wie ich dich liebe,
Philip
Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Brusttasche ihrer Bluse. Sie hob das Gesicht zum Himmel und presste die Lippen so sehr zusammen, dass sie weiß wurden. Schließlich fasste sie sich und betrat langsam die Kinderkrippe.
Noch einmal durchwühlte sie ihren einzigen Schrank, um die Sachen auszuwählen, die sie mit nach Montclair nehmen würde. Und es war ungefähr die zwanzigste Fliege, die der Verkäufer Philip zur Auswahl vorlegte.
Sie schloss ihre Haustür ab.
Hinter ihm schloss sich die Tür des Schneiders; eine riesige Pappschachtel mit seinem Hochzeitsanzug auf dem Arm, machte er sich auf den Weg nach Hause.
Der Bauer fuhr sie zum Flugplatz, von dem aus sie das winzige Flugzeug nach Tegucigalpa nehmen würde. Was machte es ihr jetzt noch aus, ob es rotweiße Tragflächen hatte oder nicht, dazu war viel zu viel Wasser unter den Brücken von Honduras geflossen.
Es war Jonathan, sein Arbeitskollege und Trauzeuge, der ihn zum Friseur fuhr.
Durch das kleine Fenster sah sie in der Ferne einen Fluss glitzern. Durch das Fenster des Buick sah er die Passanten über die Straßen von Montclair schlendern.
Er ging nervös den Mittelgang der Kirche hinauf und wartete auf die Bestätigung, dass für den nächsten Tag alles geregelt war.
Sie lief im Terminal des Flughafens von Tegucigalpa auf und ab und wartete ungeduldig darauf, an Bord der Boeing gehen zu können, die mit vier Stunden Verspätung nach Florida fliegen würde.
Wie die Tradition es wollte, verbrachte er den Abend vor der Hochzeit nicht mit Mary. Jonathan setzte ihn am Grand Hotel ab, in dem seine Eltern eine Suite für ihren Sohn reserviert hatten.
Sie saß in der Maschine, die bereits durch die Wolkendecke gebrochen war.
Sie aß im Flugzeug das ihr auf dem Tablett gereichte Essen. Er wollte früh schlafen und nahm auf seinem Bett sitzend ein frugales Mahl ein. Sie traf in Miami ein und streckte sich, den Riemen ihrer großen grünen Tasche um die Hand gewickelt, auf einer der Bänke des Eastem-Airlines-Terminals aus.
Er knipste die Nachttischlampe aus und versuchte einzuschlafen.
Am frühen Morgen betrat sie die Toilettenräume des Flughafens und stellte sich vor den großen Spiegel. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, ihr Haar zu bändigen.
Er stand vor dem Spiegel, putzte sich die Zähne, wusch sein Gesicht und brachte sein Haar mit den Fingern in Ordnung.
Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel,
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