Wo bist du
gute Nacht zu wünschen; er würde noch einmal hinaufgehen. »Ich arbeite lieber jetzt noch ein Stündchen, damit ich den ganzen Sonntag Zeit für euch habe«, würde er argumentieren, und Mary würde lächeln. Er käme »später« zu ihr ins vorgewärmte Bett in ihre zärtlichen Arme.
In der Nacht hatte es irgendwann aufgehört zu regnen, und die feuchten Bürgersteige schimmerten im matten Morgenlicht. Thomas war aufgestanden und hinunter ins Wohnzimmer gegangen. Mary hörte die Stufen knarren. Sie streifte den Bademantel über, den sie am Fußende des Bettes hatte liegen lassen. Der Kleine war schon unten angelangt, als es an der Eingangstür klingelte. Er griff nach der Klinke, um zu öffnen.
»Tom, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht an die Tür gehen sollst.«
Der Junge drehte sich um und sah seine Mutter mit großen unschuldigen Augen an. Sie kam herunter, schob ihn zur Seite und öffnete. Vor ihr stand eine Frau in einem strengen marineblauen Kostüm, stocksteif, als hätte sie ein Lineal verschluckt. Mary hob die linke Braue - eine Mimik, die immer Ausdruck von Erstaunen war und mit der sie ihren Sohn zum Lachen brachte und ihrem Mann ein Lächeln entlocken konnte.
»Bin ich hier bei Mr. Nolton?«, fragte die Unbekannte. »Und genauso bei Mrs. Nolton!«
»Ich muss Ihren Mann sprechen, mein Name ist ... «
»Früh am Sonntagmorgen, warum auch nicht.«
Die Frau unternahm gar nicht erst den Versuch, sich richtig vorzustellen oder sich für den morgendlichen Überfall zu entschuldigen. Sie müsse Philip so bald wie möglich sprechen, beharrte sie. Mary wollte wissen, warum sie ihn am einzigen Tag in der Woche, an dem er ausschlafen konnte, aus dem Bett zerren sollte. Da ein »Ich muss ihn sprechen« in ihren Augen nicht ausreichte, forderte sie die Dame trocken auf, zu einer angemesseneren Stunde zurückzukommen.
Die Frau drehte sich kurz zu dem Wagen um, der vor dem Grundstück parkte, und wiederholte ihr Anliegen. »Ich weiß, es ist sehr früh für Sie, aber wir sind die ganze Nacht gereist, und unser Rückflug geht in wenigen Stunden. Wir können nicht warten.«
Mary richtete den Blick auf den Wagen. Am Steuer saß ein korpulenter Mann, daneben eine Frau, die den Kopf an die Seitenscheibe presste. Die Entfernung war zu groß, als dass Mary, selbst wenn sie die Augen zusammenkniff, ihre Züge hätte erkennen können. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass ihre Blicke sich kreuzten. Der ungebetene Gast nutzte diese wenigen Sekunden ihrer Unaufmerksamkeit, um mehrmals Philips Namen zu rufen, woraufhin ihr Mary wütend die Tür vor der Nase zuschlug.
»Was ist los?«
Philip war auf dem Treppenabsatz erschienen, Mary schnellte herum. «Ich weiß nicht, eine Irre, die nach dir verlangt«, sagte sie gereizt, »und die nicht damit rausrücken will, dass sie eine Ex von dir ist, vielleicht ist es aber auch ihre Freundin, die im Wagen vor unserem Grundstück wartet.«
«Ich verstehe kein Wort. Wo ist Thomas?«, fragte er benommen und kam die Treppe herunter.
»Im Senat, er gibt heute Morgen eine Pressekonferenz!« Philip trat gähnend auf Mary zu, küsste sie auf die Stirn und öffnete die Tür. Die Frau hatte sich nicht von der Stelle bewegt.
«Entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh wecke, aber ich muss Sie unbedingt sprechen.«
»Ich höre«, gab er kühl zurück.
«Es ist vertraulich!«, fügte sie hinzu.
»Das ist der Fall, wenn meine Frau dabei ist.«
»Ich habe genaue Anweisungen.«
»Worum geht es?«
»Nur unter vier Augen.«
Philip warf Mary einen fragenden Blick zu, sie antwortete mit einem Heben der Braue, rief ihren Sohn, er solle frühstücken kommen, und verschwand in der Küche. Er ließ die Dame in Marineblau ins Wohnzimmer treten; sie zog die Schiebetür zu, knöpfte ihre Kostümjacke auf und nahm auf dem Sofa Platz.
Philip war noch nicht wieder erschienen. Mary räumte den Frühstückstisch ab und starrte auf die Wanduhr, deren Zeiger sich immer langsamer zu bewegen schienen. Sie stellte ihre Tasse ins Spülbecken und beschloss, dieses nicht enden wollende Gespräch zu unterbrechen. Als sie schon auf dem Flur war, öffnete sich plötzlich die Tür. Philip tauchte als Erster auf, und Mary wollte etwas sagen, doch seine schroffe Geste ließ sie verstummen. Die Frau grüßte mit einem knappen Kopfnicken und wartete vor dem Eingang. Philip hastete die Treppe in den ersten Stock hinauf, um gleich darauf in Leinenhose und großmaschigem Pullover wieder zu erscheinen. Er
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