Wo bist du
du - was gibt's Neues in deinem Leben?«
»Nichts, nichts Neues. Der alte Trott, auch wenn es ein bisschen paradox ist. Von hier aus gesehen scheint alles außergewöhnlich, aber bei mir gehört es zum Alltag. Zwischen einer Geburt und einem Todesfall gilt es ganze Dörfer zu ernähren, das ist alles. Ich muss gehen. Ich habe die Maschine, die ich nehmen wollte, nicht erwischt, und die letzte nach Washington geht in einer halben Stunde, für sie habe ich meinen Koffer aufgegeben.«
»Lüg mich nicht an. Du reist immer nur mit dieser Tasche. Willst du nicht über Nacht bleiben?«
»Nein, ich habe morgen früh um sieben einen Termin.«
Er zahlt die Rechnung. Als er aufsteht, fällt sein Blick auf das Eis, das in dem Becher geschmolzen ist. Die Farben haben sich vermischt, und die Mandelsplitter sind untergegangen. Er legt den Arm um ihre Schultern, und sie gehen zum Boarding Gate.
Beim Abschied sieht er ihr prüfend in die Augen.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Aber ja, ich bin nur kaputt, das ist alles. Und jetzt hör endlich auf, sonst setze ich mich zwei Stunden vor den Spiegel, um zu sehen, was nicht stimmt.«
»Hattest du mir nicht geschrieben, du wolltest mir etwas sehr Wichtiges sagen?« »Nicht dass ich wüsste, Philip, auf jeden Fall kann es so wichtig nicht gewesen sein, weil ich es vergessen habe.«
Sie reicht der Hostess ihr Ticket, dreht sich um und schließt ihn noch einmal in die Arme. Sie drückt ihre Lippen auf die seinen. Wortlos wendet sie sich ab und geht auf die Gangway zu. Philip schaut ihr nach und ruft:
»Last call!«
Sie bleibt stehen und dreht sich langsam um. Ein arrogantes Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. Sie macht kehrt und steuert langsam auf ihn zu. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt ist, herrscht sie ihn an:
»Was soll das bedeuten, last call?«
»Du hast es sehr gut verstanden, Susan.«
Der Hostess, die sie daran hindern will, hinter die Sperre zurückzukehren, macht sie ein unwirsches Handzeichen. Sie nähert ihr Gesicht dem seinen und zischt mit wütender Stimme:
»Du kannst mich mal mit deinem last call! Du bist es, der ein Risiko eingeht, nicht ich! Heirate doch, mach ihr ein Kind, wenn es dir Spaß macht. Aber sollte ich mein Leben ändern und eines Tages beschließen, dich zu holen, dann finde ich dich, selbst auf den Toiletten, darauf kannst du Gift nehmen. Und dann bist du es, der sich scheiden lässt, nicht ich!«
Sie packt ihn am Hals, zieht ihn gewaltsam an sich, küsst ihn und schiebt die Zunge tief in seinen Mund. Dann stößt sie ihn mit der gleichen Heftigkeit von sich und geht zu ihrem Flugzeug. Am Ende des Korridors brüllt sie: »Last call!«
Guatemala wurde von den neu aufflammenden Kämpfen im benachbarten Nicaragua erfasst. Im Landesinnern gingen Gerüchte um, die Gewalt der bewaffneten Gruppen könnte über die Grenzen schwappen. Das ärmste Land Mittelamerikas würde eine neuerliche Katastrophe nicht verkraften. Die Anwesenheit des Peace Corps beruhigte die Bevölkerung. Würde sich etwas Schwerwiegendes zusammenbrauen, hätte Washington sie repatriiert. Der Anfang des honduranischen Winters mit seiner zerstörerischen Gewalt kündigte sich an. Was nicht repariert oder gesichert worden war, verschwand, fortgetragen von den Wassermassen oder den heftigen Stürmen. Susan kämpfte gegen eine körperliche Erschöpfung an, die sich ihrer täglich mehr bemächtigte. Ihr Gesundheitszustand war normal, ihre seelische Verfassung aber entsprach der Regenzeit.
Mitte November reiste Philip mit Mary übers Wochenende auf die Insel Martha's Vineyard. Ein langer Spaziergang in der Abenddämmerung führte sie ans Meer. Es war die Stunde, zu der die Wale vorbeizuschwimmen pflegten. Sie setzten sich an den Strand, hielten sich umschlungen und betrachteten das Schauspiel. Als die Dunkelheit hereinbrach und schwarze Wolken sich über ihnen aufzutürmen begannen, beschlossen sie, so schnell wie möglich in ihre Pension zurückzukehren.
Unter den Donnerschlägen und Blitzen, die den Himmel über ihrem Haus zerrissen, umarmte Susan niemanden mehr und wartete in ihrem Bett vergeblich auf den Schlaf.
Drei Wochen später, Anfang Dezember, wurde der Belagerungszustand im benachbarten Nicaragua aufgehoben, und das ganze Land atmete auf.
Weihnachten brachen Philip und Mary zu einem Urlaub nach Brasilien auf. Aus zehntausend Meter Höhe sah Philip hinab und versuchte, sich eine bestimmte Küste unter dem Wolkenschleier vorzustellen.
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