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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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die Essiggurke, die als Stützpfeiler diente, und die Kunst der Übung bestand darin, den Spinat-Wald, in dem viele Gefahren lauerten, zu umgehen. Philip skizzierte auf seinem Papierset Marys Züge, während Lisa auf dem ihren den zeichnenden Philip malte.
    Am Mittwoch nahm er sie zum Einkaufen in einen Supermarkt mit. Lisa hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
    In diesem Geschäft gab es mehr Nahrungsmittel, als sie je in ihrem ganzen Dorf gesehen hatte.
    Alle Unternehmungen in dieser Woche dienten der Erkundung jener Welt, die ihre Mutter ihr manchmal als »das Land von früher« beschrieben hatte. Lisa - begeistert, bisweilen auch eifersüchtig oder verängstigt - fragte sich, wie sie Teile dieser Welt mitnehmen könnte, wenn sie in die staubigen Gassen zurückkehren würde, zu ihren Menschen, die ihr so sehr fehlten. Abends vor dem Einschlafen ließ sie all die tröstlichen Bilder in sich aufsteigen:    die kleine
    ungepflasterte Straße, die ihr Haus mit der Krankenstation verband, welche ihre Mutter hatte bauen lassen, oder die freundlichen Blicke der Dorfbewohner, die sie bei jeder Begegnung grüßten. Der Elektriker, der nie Geld von ihrer Mutter annehmen wollte, hieß Manuel. Sie erinnerte sich an die Stimme der Lehrerin Senora Cazales, die einmal wöchentlich ins Dorf kam, um ihnen im Lebensmitteldepot Unterricht zu erteilen. Sie brachte ihnen Fotos von außergewöhnlichen Tieren mit. Und in den Armen von Enrique, dem Mann mit dem Karren, den alle scherzhaft den »Transporteur« nannten, sank sie in den Schlaf.
    Im Traum hörte sie auf der trockenen Erde die Hufe ihres Esels schlagen. Sie folgte ihm bis zum Bauernhof, durchquerte die Rapsfelder, deren hohe gelbe Blüten sie vor der glühenden Sonne schützten, und gelangte schließlich zur Kirche. Die Türen waren, nachdem sich der Türstock durch den vielen Regen verzogen hatte, stets angelehnt. Sie ging zum Altar vor, und die Dorfbewohner zu beiden Seiten des Mittelgangs betrachteten sie lächelnd. In der ersten Reihe nahm ihre Mutter sie in die Arme und drückte sie an sich. Der Duft ihrer Haut, eine Mischung aus Schweiß und Seife, stieg ihr in die Nase. Das Licht nahm langsam ab, als ginge der Tag zu schnell zur Neige, und plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Umgeben von einem opalfarbenen Schimmer, kam der Esel in die Kirche und betrachtete die überraschte Gemeinde. Plötzlich brach das Gewitter los, hallte im Kirchengemäuer wider. Das dumpfe Grollen des Wassers, das den Berg hinabstürzte, wurde lauter. Die Köpfe gesenkt, die Hände gefaltet, knieten die Bauern nieder und beteten noch inbrünstiger. Sie hatte Mühe, ihren Kopf zu wenden, so als würde das Gewicht der Luft sie daran hindern. Die hölzernen Türflügel zersplitterten, und der reißende Strom drang in das Kirchenschiff. Der Esel trieb auf den Fluten, versuchte verzweifelt, die Nüstern über Wasser zu halten, und stieß einen letzten Schrei aus, bevor er versank. Als sie die Augen öffnete, saß Philip neben ihr und hielt ihre Hand. Er streichelte ihr Haar und murmelte besänftigende Worte, mit denen man Kinder zum Schweigen bringen will, obwohl allein Schreie sie von der Angst befreien könnten. Doch welcher Erwachsene erinnert sich noch an diese Schrecken?
    Sie setzte sich abrupt im Bett auf und strich sich über die Stirn, um die Schweißperlen abzuwischen.
    »Warum ist Mum nicht mit mir zurückgekommen? Wozu soll mein Albtraum gut sein, wenn sie nicht mit mir aufwacht?« Philip wollte sie in die Arme nehmen, doch sie stieß ihn zurück.
    »Alles braucht seine Zeit«, sagte er, »du wirst sehen, nur ein bisschen Zeit, und es geht besser.«
    Er blieb bei ihr, bis sie wieder eingeschlafen war. Als er ins Schlafzimmer zurückkam, machte er, um Mary nicht aufzuwecken, kein Licht. Er tastete sich zum Bett und schlüpfte unter die Decke. »Was hast du gemacht?«
    »Hör auf, Mary!«
    »Aber was habe ich denn gesagt?«
    »Eben nichts!«
    Dieser Samstag war dem vorangegangenen zum Verwechseln ähnlich, wieder schlug prasselnder Regen gegen die Scheiben. Philip hatte sich in seinem Arbeitszimmer ein-geschlossen. Im Wohnzimmer vernichtete Thomas einige Außerirdische, die wie halbe Kürbisse geformt waren und den Bildschirm hinabschwebten. Mary saß in der Küche und blätterte in einer Zeitschrift. Ihr Blick richtete sich auf die Treppe, deren Stufen im Halbdunkel des ersten Stocks verschwanden. Durch die geöffnete Schiebetür zum Wohnzimmer erahnte sie den Rücken ihres

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