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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Sohn zu ihm, von ihm zu Lisa und wieder zurück. Sie betrachtete die drei, war Zuschauer in einer Komplizenschaft, die ebenso spontan wie teuflisch war und von der sie sich bereits ein wenig ausgeschlossen fühlte. Plötzlich kam ihr die Heiterkeit zum Bewusstsein, die ihr Haus erfüllte, und auch das zärtliche Lächeln auf Philips Lippen, als er Lisa betrachtete, entging ihr nicht. Das Gesicht der Kleinen glich - die dunklere Haut ausgenommen - voll und ganz dem der Frau auf dem Foto, das in seinem Arbeitszimmer stand. Bei dem Blick, den sie mit Philip wechselte, verstand Mary sofort ...
    In ihr Haus war ein Kind gekommen, das Sonnen unter der Zimmerdecke erfand, um den Regen aus den Augen zu vertreiben, und sie wollte dieses Kind nicht. Und es trug alle Vernunft und
    Unvernunft einer anderen Frau in sich, die seit je die geheimen Gefühle jenes Mannes beschäftigte, den sie liebte.
    Philip sah sie an, und sein Lächeln wurde zärtlich. Er ging in die Garage und kam mit einer Leiter unter dem Arm zurück, stellte sie auf und stieg hinauf. Oben angekommen, nahm er die Pfannkuchen ab: »Dürfte ich einen Teller haben? Wir können schließlich nicht alle hier oben essen, wir haben nur eine Leiter. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe langsam Hunger.« Das Abendessen verlief in einer bis dahin ungewohnten Ausgelassenheit zwischen Vater und Sohn, aber auch zwischen Mary und Lisa.
    Nach der Murphy-Brown-Folge gingen sie schlafen. Auf dem Flur ermahnte Mary Lisa, sie solle sich die Zähne putzen. Wenn sie im Bett liege, komme sie, um mit ihr zu schmusen. Es folgte ein kurzer Augenblick der Stille. Mary spürte, dass sich Lisa nicht vom Fleck gerührt hatte. Hinter ihrem Rücken fragte die Kleine:
    »Was ist das, schmusen?«
    Mary drehte sich um, um sie anzusehen, und versuchte, ihre Verwirrung zu verbergen, doch ihre Stimme war unsicher: »Wie meinst du das, was ist das, schmusen?«
    Lisa hatte die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Na ja, was ist das - schmusen?«
    »Lisa, das musst du doch wissen! Ich komme zu dir und gebe dir vor dem Einschlafen einen Kuss.«
    »Und warum solltest du mir einen Kuss geben? Ich habe doch heute gar nichts Gutes getan!«
    Mary betrachtete die Kleine, wie sie unbeweglich dastand. Die selbstsichere Haltung ließ sie zugleich stark und zerbrechlich wirken wie ein kleines Tier, das sich aufplusterte, um seinen Verfolger einzuschüchtern. Sie ging zu ihr und begleitete sie zum Waschbecken. Während sich Lisa die Zähne putzte, setzte sie sich auf den Wannenrand und betrachtete das Gesicht des Mädchens im Spiegel. »Putz nicht zu fest, ich habe schon bemerkt, dass dein Zahnfleisch nachts blutet, ich werde mit dir zum Zahnarzt gehen.«
    »Und warum sollte man zum Arzt gehen, wenn man nicht krank ist?«
    Lisa wischte sich sorgfältig den Mund ab und legte das Handtuch auf den Heizkörper. Mary streckte ihr die Hand entgegen, aber Lisa tat so, als hätte sie es nicht bemerkt, und ging aus dem Bad. Mary folgte ihr in ihr Zimmer und wartete, bis sie unter der Decke lag, um sich dann auf die Bettkante zu setzen. Sie strich ihr übers Haar, beugte sich zu ihr hinab und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
    »Schlaf jetzt, übermorgen fängt die Schule an, dann musst du in Form sein.«
    Lisa antwortete nicht. Noch lange, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, lag sie mit offenen Augen da, die das Halbdunkel absuchten.
    Lisas erstes Schuljahr begann mit dem Schweigen einer Erwachsenen, die noch lange im Körper eines Kindes gefangen bleiben sollte. Niemand vernahm ihre Stimme, selbst ihre Lehrer nur dann, wenn sie ihr eine Frage stellten, was selten vorkam, da die meisten der Ansicht waren, dass sie das Jahr ohnehin wiederholen würde, und sich deshalb nicht für sie interessierten. Auch zu Hause sprach sie kaum, antwortete mal mit einem Kopfnicken, mal mit einem Knurren, das tief aus ihrer Kehle kam. Sie wäre gerne kleiner gewesen als die Ameisen, die sie auf ihrem Fensterbrett fütterte. Sie verbrachte viele Abende in ihrem Zimmer, wo sie die ganze Zeit über nur eines tat: Sie setzte die Bilder aus ihrem Leben von »früher« zusammen, bis sie eine lange Kette von Erinnerungen bildeten, ein Hoffnungsfaden, auf dem sie herumspazierte. Und in dieser Welt, die die ihre war, hörte sie das Knirschen der Steine unter den Rädern des Jeeps, das Susans Rückkehr ankündigte; dann tauchte aus ihrer tiefsten Erinnerung jener berauschende Geruch nach feuchter Erde auf, vermischt mit dem der

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