Wo bist du
Kiefernnadeln, und manchmal vernahm sie in der Ferne im Rauschen der Bäume wie durch einen Zauber auch die Stimme ihrer Mutter.
Oft war es abends die von Mary, die sie in die Gegenwart zurückholte, in eine fremde Welt, aus der nur der Blick zur Wanduhr Ausflucht bot.
Da ihr Zeiger die Minuten zählte und verstreichen ließ, würden zwangsläufig irgendwann Jahre daraus.
Weihnachten stand vor der Tür, und die mit Lichtergirlanden geschmückten Dächer zeichneten sich gegen den dunklen Himmel ab. Auf dem Rückweg von New York, wohin sie Mary zu den letzten Einkäufen begleitet hatte, konnte Lisa nicht umhin, ihren Standpunkt darzulegen:
»Die Hälfte der Glühbirnen, die hier zu nichts nutze sind, sollte man zu mir nach Hause schicken, dann gäbe es dort in allen Häusern Licht.«
»Zu Hause«, entgegnete Mary, »bist du da, wo wir wohnen, in einer kleinen Straße von Montclair, und dort haben schon alle Familien Licht. Es ist nichts Schlimmes daran, gut zu leben, hör auf, die ganze Zeit daran zu denken, was dort fehlt, woher du kommst, und hör auf zu sagen, dass du dort zu Hause bist. Du bist keine Honduranerin, sondern meines Wissens Amerikanerin, dein Land ist hier.«
»Wenn ich volljährig bin, kann ich meine Staatsangehörigkeit wählen!«
»Es gibt Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um bei uns zu leben, du solltest glücklich sein.«
»Das ist, weil sie kein Recht haben zu wählen!«
In den folgenden Monaten bemühte sich Philip, ein Familienleben aufzubauen. Seine Arbeit nahm ihn zwar immer mehr in Anspruch, aber er nutzte jede freie Minute, um etwas Unterhaltsames mit ihnen zu unternehmen. So etwa die Reise an Ostern nach Disneyworld, die trotz der täglichen Auseinandersetzungen zwischen Mary und Lisa allen in guter Erinnerung blieb. Dennoch hatte Philip den Eindruck, dass sich mit der Zeit immer stärker zwei Fronten unter einem Dach herausbildeten, auf der einen Seite Lisa und er, auf der anderen seine Frau und sein Sohn.
Zu Sommerbeginn 1989 fuhr er mit Lisa an den Ontario-See. Nach der langen, schweigsam verlaufenen Autofahrt wurden sie vom Aufseher des Angler-Camps zu ihrer Hütte geführt. Er hatte Lisa zugezwinkert, sie jedoch tat so, als würde sie nichts bemerken. Die andere Seite des Sees gehörte schon zu Kanada. Nachts erzeugten die Lichter von Toronto einen orangefarbenen Schimmer, der von den bauchigen Wolken zurückgeworfen wurde. Nach dem Abendessen saßen sie auf der Veranda, die oberhalb des ruhigen Wasser lag. Lisa brach das Schweigen:
»Wozu ist die Kindheit gut?«
»Warum fragst du mich das?«
»Warum antworten Erwachsene auf Fragen, auf die sie keine Antwort wissen, immer mit einer anderen Frage? Ich gehe jetzt ins Bett!«
Sie stand auf, doch er ergriff ihr Handgelenk und zwang sie, sich wieder zu setzen.
»Weil man dadurch Zeit gewinnt. Glaubst du denn, das wäre eine einfache Frage?«
»Das ist immer noch keine Antwort!«
»Es gibt so viele verschiedene Kindheiten, dass die Antwort schwer zu formulieren ist. Lass mir etwas Zeit und sag mir inzwischen deine Definition.«
»Ich habe dir die Frage gestellt, nicht umgekehrt.«
»Ich habe meine ganze Kindheit mit deiner Mutter verbracht.« »Danach habe ich nicht gefragt.«
»Du willst doch, dass ich von ihrer Kindheit erzähle! Sie fühlte sich eingeengt wie alle Kinder, die das Leben zu schnell heranwachsen lässt. Wie du war sie eine Geisel ihrer kindlichen Erscheinung und dieser verdammten Sanduhr, deren Körner nicht schnell genug rannen.
Sie verbrachte ihre Tage damit, auf morgen zu warten, und ihre Nächte, vom Älterwerden zu träumen.«
»War sie unglücklich?«
»Ungestüm. Und die Ungeduld tötet die Kindheit.«
»Und dann?«
»Dann, denn das war ja deine Frage, wird die Kindheit zu einem unerträglich langen Hindernislauf, so wie im Moment für dich, nicht wahr?«
»Und warum kann man nicht gleich erwachsen werden?«
»Weil die Kindheit ihre Vorzüge hat. Sie ist die Grundlage für unsere Träume und unser Leben. Aus dieser Erinnerung wirst du später deine Kraft schöpfen, deinen Zorn und deine Leidenschaft nähren, und sie wird dir oft helfen, deine Ängste und deine Grenzen zu überwinden.« »Ich mag meine Kindheit nicht mehr.«
»Ich weiß, Lisa, und ich verspreche dir, alles zu tun, um sie farbenprächtig zu gestalten. Trotzdem wird es immer einige Regeln schwarz auf weiß geben.«
Bei Tagesanbruch setzten sie sich ans äußerste Ende des Stegs. Zur Geduld entschlossen, bat er sie,
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