Wo bitte geht's nach Domodossola
Rückweg zum Hotel begab, betrachtete ich Paris mit vor Bewunderung verklärten Augen.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und machte einen langen Spaziergang durch die noch schlafenden Straßen. Ich liebe es, mitzuerleben, wie eine Stadt erwacht, und Paris erwacht schlagartig, viel unvermittelter als jede andere Stadt, die ich kenne. Da hatte man sie gerade noch für sich allein, teilte sie nur mit einem Zeitungsjungen und ein paar brummenden Maschinen der Straßenreinigung (übrigens: Paris gibt alljährlich 145 Mark pro Kopf für die Reinigung seiner Straßen aus, London dagegen nur 42 Mark, womit wohl geklärt wäre, warum Paris ein Schmuckstück ist und London ein Klosett), und urplötzlich herrscht hektisches Treiben – Autos und Busse sausen vorbei, Cafés und Kioske öffnen, Scharen von Menschen hetzen aus den Metro-Stationen wie aufgeschreckte Vogelschwärme, und überall ist Bewegung, Tausende und Abertausende von Beinen eilen umher. Gegen halb neun ist ein Spaziergang durch Paris dann alles andere als ein Vergnügen. Der Verkehr ist einfach zu stark. Über jedem Boulevard hängt ein blauer Dunstschleier aus Abgasen. Mir ist wohl bekannt, daß Baron Haussmann Paris zu einer sehenswerten Stadt gemacht hat, aber von zügigem Verkehrsfluß hatte der Mann keine Ahnung. Allein am Arc de Triomphe treffen sich dreizehn Straßen. Können Sie sich das vorstellen?
Was ich sagen will, ist folgendes: Da haben wir nun eine Stadt, in der die aggressivsten Autofahrer der Welt zu Hause sind, Autofahrer, die man unter anderen Umständen mit Ledergurten an ihre Betten fesseln würde, denen man aus Spritzen, so groß wie Fahrradpumpen, Thorazin injizieren würde, und was tut man? Man gibt ihnen einen freien Platz, auf dem sie alle miteinander versuchen können, in dreizehn verschiedene Richtungen gleichzeitig zu rasen. Das kann doch nicht gutgehen. Interessanterweise waren die Franzosen schon lange vor der Erfindung der Verbrennungsmaschine als schlechte Fahrer bekannt. Bereits im achtzehnten Jahrhundert haben sich britische Reisende über die verrückte Fahrweise der Franzosen in Paris geäußert, über »die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der sich Kutschen und Menschen durch die Straßen bewegten …. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Kind überfahren und vermutlich getötet wurde«. Ich zitiere aus dem Werk The Grand Tour von Christopher Hibert, ein Buch, das uns vor Augen führt, daß die Völker Europas bereits seit mindestens 300 Jahren ihren jeweiligen Stereotypen gerecht werden. Schon im sechzehnten Jahrhundert beschrieben Reisende die Italiener als redselig, unzuverlässig und hoffnungslos korrupt, die Deutschen als gefräßig, die Schweizer als übereifrig und übertrieben ordentlich, die Franzosen als, nun ja, als unerträglich französisch. In Paris steht man ständig vor einem dieser monumentalen Plätze, die zu Fuß zu überqueren beinahe unmöglich ist. Als meine Frau und ich während unserer Flitterwochen in Paris waren, haben wir törichterweise versucht, den Place de la Concorde zu überqueren, ohne vorher unsere Namen in der Botschaft zu hinterlassen. Irgendwie hatte sie es geschafft, den Obelisken in der Mitte zu erreichen. Ich dagegen war in einem Circus Maximus aus Killermobilen gestrandet, winkte hilflos meiner Liebsten zu und wimmerte leise vor mich hin, während Hunderte von kleinen, gelbbraunen Renaults auf mich zuhielten, deren Fahrer ausnahmslos denselben Gesichtsausdruck hatten wie Jack Nicholson in Batman. In dieser Hinsicht hat sich Paris kein bißchen verändert. Am Place de la Bastille, einem riesigen freien Platz, der an seiner Nordostseite von dem funkelnden Bauwerk der neuen Pariser Oper beherrscht wird, stand ich eine geschlagene Dreiviertelstunde und versuchte, von der Rue de Lyon zur Rue de St Antoine zu gelangen. Die Fußgängerampeln an solchen Plätzen dienen nämlich nur dem einen Zweck, ausländische Besucher zu verwirren, zu demütigen und, wenn möglich, zu eliminieren. Und so funktioniert das Ganze: Man erreicht einen Platz, und der gesamte Verkehr steht, die Fußgängerampel aber ist rot, und man weiß nur zu genau, daß alle Autos in dem Moment Gas geben und einen in eine hauchdünne Crêpe verwandeln würden, in dem man auch nur einen Fuß auf die Straße setzt. Also wartet man. Nach einer Minute kommt ein Blinder daher und überquert die weite, kopfsteingepflasterte Ebene ohne zu zögern. Dann rollt eine neunzigjährige Dame in einem motorisierten Rollstuhl
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