Wo bitte geht's nach Domodossola
heran und rumpelt über das Kopfsteinpflaster zur 400 Meter entfernten Seite des Platzes. Man selbst ist sich unterdessen unangenehm bewußt, daß die Augenpaare aller Autofahrer im Umkreis von 150 Metern erwartungsvoll auf einen gerichtet sind. Also tut man so, als wolle man die Straße eigentlich gar nicht überqueren, als sei man vielmehr gekommen, um diese interessante Laterne der Jahrhundertwende zu bestaunen. Es vergeht eine weitere Minute, und 150 Vorschulkinder werden von ihren Lehrern über die Kreuzung getrieben. Dann kommt der blinde Mann aus der Gegenrichtung mit zwei vollen Einkaufstaschen zurück. Und endlich schaltet die Fußgängerampel auf Grün, man tritt auf die Straße, und alle Autos stürmen auf einen los. Und es ist mir egal, wie paranoid oder irrational das klingen mag, aber für mich steht fest, die Einwohner von Paris wollen meinen Tod.
Schließlich gab ich meine Versuche auf, überhaupt irgendwelche Kreuzungen zu überqueren, und folgte nur noch den Straßen, die am wenigsten bedrohlich schienen. Infolgedessen hatte ich einige Schwierigkeiten zu überwinden, bis ich am frühen Nachmittag endlich vor dem Louvre stand, in dessen Eingangshof sich eine Menschenschlange gebildet hatte, lang und reglos wie ein vergessener Gartenschlauch.
Ich stand unschlüssig herum. Sollte ich mich hinten anstellen oder später wiederkommen, in der schwachen Hoffnung, der Andrang könnte dann nachgelassen haben, oder sollte ich es machen wie ein Franzose und einfach hineingehen? Die Franzosen waren da erstaunlich skrupellos. Alle paar Minuten näherte sich einer dem Anfang der Schlange, blickte scheinbar interessiert auf seine Armbanduhr, kroch im nächsten Moment unter der Absperrung durch und verschwand zusammen mit den ersten aus der Schlange durch die Eingangstür. Ich war überrascht, daß niemand protestierte. Nach ihrem Akzent und nach den Einschußlöchern in ihren Trenchcoats zu urteilen, kamen viele der Wartenden aus New York, wo die Menge über so unverfrorene Burschen hergefallen wäre und sie in Stücke gerissen hätte. Ich habe das einmal am Shea Stadion erlebt. Es war fürchterlich, aber man konnte sich der Schadenfreude nicht erwehren. Selbst in London hätte man die Übeltäter mit spitzer Zunge zurechtgewiesen – »Würden Sie sich bitte hinten anstellen; da steh’n auch nette Leute.« –, aber hier regte sich nicht der geringste Protest. Ich brachte es nicht fertig, mich an den Wartenden vorbeizumogeln. Ebensowenig konnte ich in dieser reglosen Menschenmasse ausharren, während andere sich über alle Spielregeln hinwegsetzten und ungeschoren davonkamen. Ich ging also weiter und war einigermaßen erleichtert. Bei meinem letzten Besuch im Louvre, 1973 mit Katz, wimmelte es dort von Menschen, und man sah rein gar nichts. Die Mona Lisa kam mir vor wie eine Briefmarke, die ich durch Unmengen von Köpfen aus einem gegenüberliegenden Gebäude betrachtete, und offensichtlich hatte sich seit damals nichts daran geändert. Außerdem interessierte mich eigentlich nur ein bestimmtes Bild, ein bemerkenswertes Gemälde aus dem achtzehnten Jahrhundert, dem seit 200 Jahren außer mir vermutlich kein Besucher des Louvre Beachtung geschenkt hatte. Ich wäre beinahe selbst achtlos daran vorbeigegangen, doch irgendetwas an diesem Bild erregte meine Aufmerksamkeit und ließ mich umkehren. Es war ein Bildnis zweier aristokratischer Damen, beide jung und nicht umwerfend attraktiv. Sie standen nebeneinander und trugen außer ihren Juwelen und einem verschmitzten Lächeln nichts am Leib. Und nun kommt’s: Die eine hatte wie zufällig – man könnte fast meinen geistesabwesend – ihren Finger in das Gesäß der anderen gesteckt. Und ich kann mit einiger Gewißheit sagen, daß etwas Derartiges im Staate Iowa selbst unter den wohlhabenden und weitgereisten Bürgern völlig unbekannt war. Ich machte mich sogleich auf die Suche nach Katz, der, als wir gerade fünfzehn Minuten im Louvre waren, zu jammern begonnen hatte »Hier gibt’s ja nichts als Bilder und so ’ne Scheiße«, woraufhin er sich schlechtgelaunt ins Museumscafe zurückzog, um dort eine halbe Stunde auf mich zu warten, und keine Minute länger. Dort fand ich ihn. Seine Laune hatte sich weiter verschlechtert, weil er zwei Francs für eine Cola hatte zahlen müssen und zu allem Übel noch eine Handvoll Centimes an die Klofrau losgeworden war (»und dann hat die mich die ganze Zeit beobachtet«).
»Vergiß es«, sagte ich. »Komm lieber mit und
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