Wo bitte geht's nach Domodossola
– Frauen, Kinder, jeden, der ihnen in die Quere kam. Hatten sie erst alles niedergemäht, nahmen sie einen relativ kleinen Geldbetrag aus der Kasse und verschwanden wieder. Das Merkwürdige ist, daß die Bande nie ihre Motive zu erkennen gegeben hat. Nie hat sie auch nur eine Geisel genommen, und nie hat sie mehr als ein paar Hundert Francs mitgehen lassen. Sie hatte nicht einmal einen Namen, den jeder kannte. Den Namen Nijvel-Bande hat ihnen die Presse verpaßt, weil ihre Fluchtfahrzeuge der Marke Golf GTI immer irgendwo im Brüsseler Vorort Nijvel gestohlen worden waren. Nach ungefähr sechs Monaten hörten die Überfälle plötzlich auf. Sie wurden nie aufgeklärt. Die Waffen wurden nie gefunden. Und die Polizei hat nicht die leiseste Ahnung, wer die Killer waren und was sie wollten. Ist das nun merkwürdig oder nicht? Und dennoch werden Sie in Ihrer Zeitung vermutlich nicht davon gelesen haben. Und auch das finde ich einigermaßen merkwürdig.
Für einen Tag fuhr ich nach Brügge. Die Stadt liegt nicht einmal fünfzig Kilometer von Brüssel entfernt und ist so schön, so unsagbar schön, daß man glauben könnte, man befände sich in einem anderen Land. Alles an dieser Stadt ist perfekt – ihre Kopfsteinpflasterstraßen, ihre stillen, flaschengrünen Kanäle, ihre mittelalterlichen Häuser mit den Spitzdächern, ihre Marktplätze, ihre schlummernden Parks, einfach alles. Keine Stadt hat in einem solchen Maße von ihrem Niedergang profitiert wie Brügge. 200 Jahre lang war sie die blühendste Stadt Europas, aber durch die Verschlammung des Flußes Zwyn und durch veränderte politische Verhältnisse verkam sie zur tiefsten Provinz, und für 500 Jahre, während andere Städte wuchsen und sich von Grund auf veränderten, geriet sie mehr und mehr in Vergessenheit und blieb unberührt. Als Wordsworth die Stadt im neunzehnten Jahrhundert besuchte, sah er Gras auf den Straßen wachsen. Ich habe mir sagen lassen, daß Antwerpen noch bis zur Jahrhundertwende wesentlich schöner als Brügge war, doch dann rückten die Immobilienspekulanten an und rissen ab, was sie in die Finger bekamen, und das war so ziemlich alles. Brügge blieb dieses Schicksal nur deshalb erspart, weil es schlicht und einfach übersehen wurde. 80
Einen ganzen Tag lief ich staunend durch diese außergewöhnliche Stadt. Ich schaute ins Groeninge Museum und besichtigte den Begijnhof, dessen Gärten ein Meer aus Narzissen waren, aber meistens wanderte ich nur durch die Straßen und bewunderte ihre Vollkommenheit. Selbst die Größe dieses Ortes war perfekt – groß genug, um eine Stadt zu sein, um Buchläden und interessante Restaurants zu besitzen, aber auch kompakt genug, um freundlich und überschaubar zu sein. Man konnte an einem Tag das gesamte Straßennetz innerhalb des rund um die Stadt führenden Kanals durchstreifen. Und genau das tat ich, und ich sah nicht eine Straße, in der ich nicht gern gewohnt hätte, nicht eine Kneipe, die ich nicht gern besucht hätte, und nicht eine Aussicht, die ich nicht gern täglich vor Augen haben würde. Es war kaum zu glauben, daß all das Wirklichkeit war – daß die Leute von der Arbeit heimkamen und hier zu Hause waren, daß sie in diesen Läden einkauften und in diesen Straßen ihre Hunde ausführten, daß sie ihr Leben lebten und dachten, die Welt wäre überall so schön wie hier. Es muß ein wahrer Schock für sie sein, wenn sie zum ersten Mal Brüssel sehen.
Ein Versicherungsangestellter, mit dem ich in einer Bar an der St. Jacobstraat ins Gespräch kam, erzählte mir traurig, daß das Leben in Brügge wegen der vielen Touristen für acht Monate im Jahr unerträglich geworden sei. Er berichtete von Besuchern, die neugierig durch seinen Briefschlitz geschielt und auf der Jagd nach Schnappschüssen seine Geranien zertrampelt hätten, was ihn außerordentlich zu stören schien. Aber ich hörte ihm nicht zu, denn erstens war er der größte Langweiler in der Bar, vermutlich in ganz Flandern, und zweitens interessierten mich seine Geschichten nicht. Ich zog es vor, mir meine Illusionen zu bewahren. Aus diesem Grund verließ ich Brügge früh am nächsten Morgen, bevor der erste Reisebus eintreffen konnte. Ich fuhr nach Dinant, eine Stadt an den Ufern der Meuse, in der es an jenem Tag unaufhörlich regnete. Es war ein hübsches Städtchen. Würde ich nicht gerade aus Brügge gekommen sein, und wäre das Wetter nicht ganz so scheußlich gewesen, hätte es mir dort sicher sehr gefallen. Ich stand auf
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