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Wo bitte geht's nach Domodossola

Titel: Wo bitte geht's nach Domodossola Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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geschehen waren, in diesen Bergen und in diesen Wäldern, und daß sie Menschen geschehen waren, die mir zeitlich so nahe standen wie mein Vater. Und jetzt war es, als wäre das alles nie passiert. Deutsche, die in diesen Dörfern Frauen und Kinder abgeschlachtet hatten, konnten nun als Touristen wiederkommen, mit Kameras vor den Bäuchen und Ehefrauen an den Armen, als hätte all das Grauen nur in einem Hollywood-Streifen stattgefunden. Mehr als einmal habe ich gehört, daß es für die Einheimischen nach dem Krieg zu den schwierigsten Dingen im Zusammenleben mit den Deutschen gehörte, mitansehen zu müssen, wie sie zurückkamen, um ihren Frauen und Freundinnen mit geschwellter Brust die Orte zu zeigen, bei deren Zerstörung sie mitgeholfen hatten.

    Gegen drei Uhr dachte ich, es wäre an der Zeit, mich auf den Rückweg nach Barvaux zu machen. Wegen der vielen Pausen, die ich unterwegs einlegen mußte, und wegen der schmerzerfüllten Langsamkeit, mit der ich mich fortbewegte, erreichte ich den Bahnhof erst um kurz nach sechs. Er war dunkel und völlig menschenleer, und an den Wänden hing nicht ein Fahrplan. Ich setzte mich auf eine Bank und hatte keine Ahnung, wann der nächste Zug vorbeikommen würde, ob es überhaupt einen nächsten Zug geben würde. Es war ein so einsamer Bahnhof, wie man ihn sich in einem so kleinen und dicht bevölkerten Land wie Belgien nur vorstellen kann. In beiden Richtungen verliefen die Schienen für vier oder fünf Kilometer schnurgeradeaus. Ich fror und fühlte einen pochenden Schmerz im Knöchel. Obendrein war ich müde – und vor allem hungrig. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
    Einsam und geschwächt wie ich war, begann ich, sehnsüchtig an mein altes Stammlokal in meiner Heimatstadt zu denken. Es hieß »Y Not Grill«, was soviel bedeutet wie »Warum Nicht Grill«, und jedermann nahm an, dieser Name sei die Kurzfassung von »Warum Kommen Sie Nicht Herein und Lassen Sich Vergiften«. Es war ein merkwürdiges Lokal. Man könnte auch sagen, es war ein schreckliches Lokal, aber wie bei den meisten Dingen, die mit der eigenen Jugend zusammenhängen, war es gleichermaßen herrlich und schrecklich. Das Essen war abscheulich, die Kellnerinnen waren ständig gereizt und dumm, und bei den Köchen handelte es sich ausnahmslos um entflohene Zuchthäusler von zweifelhafter Sauberkeit. Sie litten unter chronischem Schnupfen, der so charakteristisch für einen ausschweifenden Lebenswandel ist, so daß unentwegt ein Tröpfchen Feuchtigkeit an den Spitzen ihrer Nasen hing. Und wenn der Küchenchef sich umdrehte, um einem das Essen zu servieren, ahnte man bereits mit stoischer Gelassenheit, daß das Tröpfchen verschwunden sein würde und nun wie eine Perle Morgentau irgendwo auf dem Hamburger glitzerte.
    Im »Y Not« arbeitete eine Kellnerin namens Shirley. Sie war die unangenehmste Person, die mir je begegnet ist. Was man auch bestellte, immer sah sie einen an, als hätte man sich soeben ihr Auto ausleihen wollen, um mit ihrer Tochter für ein schweinisches Wochenende nach Tijuana zu fahren.
    » Was willst du?« fragte sie immer.
    »Schweinelenden mit Zwiebelringen, bitte«, würde man mit entschuldigender Miene wiederholen. »Nur wenn’s nicht zuviel Mühe macht, Shirley.«
    Fünf Minuten konnte sie einen ansehen, als wollte sie sich die Gesichtszüge für den Polizeibericht einprägen, dann kritzelte Shirley die Bestellung auf einen Block und brüllte dem Koch etwas in diesem sonderbaren Kauderwelsch zu, das sie in solchen Lokalen immer von sich geben und das sich anhört wie »Zwei lose Stühle und den Schlong von einem toten Hund«. In einem Hollywood-Film wäre Shirley von Marjorie Main gespielt worden. Sie wäre schroff und herrisch, aber man würde sofort merken, daß in ihrem üppigen Busen ein Herz aus purem Gold schlägt. Hätte man ihr unerwartet ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht, wäre sie rot geworden und hätte gesagt »Mensch, junge, das hättste doch nich machen solln.« Hätte man Shirley ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht, hätte sie nur gegrunzt
    »Was für’n Scheiß is das?«. Shirley hatte leider kein Herz aus Gold. Ich glaube, sie hatte überhaupt kein Herz. Sie konnte nicht mal richtig mit ihrem Lippenstift umgehen. Doch auch das »Y Not« hatte seine Vorzüge. Vor allem war es die ganze Nacht geöffnet, es war also immer für einen da, ob man nun dringend seinen Cholesterinspiegel erhöhen mußte oder in den frühen Morgenstunden einfach nur unter Leuten

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