Wo bitte geht's nach Domodossola
ließen sie sich von einer Gruppe zur anderen treiben, sammelten schließlich ihre Kinder ein und gingen wieder nach Hause; doch dafür kamen andere Leute hinzu. Niemand schien länger als eine halbe Stunde zu bleiben, und dennoch dauerte die Versammlung bis in den späten Abend. Ein junger Mann, offenbar ein Neuling auf Capri, stand schüchtern am Rande einer Gruppe von Männern und lächelte über deren Witze. Doch schon nach wenigen Minuten hatte man ihn in die Runde aufgenommen. Einer der Männer hatte ihn buchstäblich am Arm ins Gespräch gezogen, und bald schwatzte er mit jedermann.
Ich stand eine Ewigkeit dort, vielleicht anderthalb Stunden, und als ich mich endlich auf den Rückweg zum Hotel machte, wurde mir klar, daß ich mich bis über beide Ohren, unsterblich und hoffnungslos in Italien verliebt hatte.
Der nächste Tag begann düster. Ein Dunstschleier lag über den Berghängen hinter der Stadt, und Neapel an der anderen Seite der Bucht schien über Nacht vom Erdboden verschwunden zu sein. Da war nur eine tote Ebene, das Meer, und dahinter eine Nebelwand. Eigentlich wollte ich zu den Ruinen der Tiberius-Villa auf dem Gipfel des Berges laufen, wo der alte Gauner einst seine unliebsamen Gäste über den Schutzwall auf die Felsen in der Tiefe werfen ließ. Als ich jedoch aus dem Hotel trat, regnete es, so daß ich den Vormittag damit verbrachte, von Café zu Café zu schlendern und einen Cappuccino nach dem anderen zu trinken, ohne dabei den Himmel aus den Augen zu lassen. Gegen Mittag war es dann zu spät für einen Besuch der Ruinen, es sei denn ich hätte meinen Aufenthalt auf Capri um einen Tag verlängert, was ich mir zeitlich nicht leisten konnte. Also ging ich widerwillig zum Hotel Capri zurück, packte meine Sachen, zahlte die Rechnung und stieg die steilen, glitschigen Stufen zum Hafen hinunter, wo ich mit der nächsten Fähre nach Neapel übersetzte.
Nach Sorrent und Capri wirkte Neapel noch deprimierender als bei meinem ersten Besuch. Ich lief etwa einen Kilometer am Wasser entlang, doch von den glücklichen Fischern, die ihre Netze flickten und »Santa Lucia« sangen, wie ich es mir so schön vorgestellt hatte, war weit und breit nichts zu sehen. Statt dessen zierten verfallende Wracks und Berge von Müll die Gegend. Ohne einen Stadtplan und nur mit einer äußerst vagen Ortskenntnis, wagte ich mich in die Stadt, in der Hoffnung, zufällig einen schattigen und von netten kleinen Hotels gesäumten Platz zu entdecken. Schließlich mußte es selbst in Neapel hübschere Ecken geben. Aber ich stieß nur auf diese Straßen, die so typisch für Neapel sind – schäbige, nur halb asphaltierte Gassen, in denen der Putz von den Hauswänden bröckelte, in denen Wäscheleinen zwischen Balkonen gespannt waren, die nie die Sonne sahen. Es wimmelte von dicken Frauen und Kindern, die oft halbnackt, nur mit schmutzigen T-Shirts bekleidet, unbeaufsichtigt in den Straßen spielten. Es kam mir vor, als wäre ich auf einen anderen Kontinent geraten. Noch heute leben im Zentrum von Neapel 70000 Familien in sogenannten bassi – Mietskasernen ohne Bad und fließend Wasser, manchmal sogar ohne ein Fenster. In diesen Behausungen wohnen bis zu fünfzehn Familienmitglieder in einem einzigen Raum. Vicaria, der schlimmste dieser Bezirke in Neapel, in dem ich mich nun befand, soll die höchste Bevölkerungsdichte Europas aufweisen. Dementsprechend hoch ist die Kriminalitätsrate, vor allem bei den leichteren Delikten wie Autodiebstahl (29000 Fälle in einem Jahr) und Straßenraub. Ich fühlte mich dennoch relativ sicher, denn ich wurde von niemandem beachtet, mit Ausnahme einiger Jugendlicher, die mir Schimpfworte nachriefen. Mit meinem Rucksack war ich unverkennbar ein Tourist, und ich gebe zu, daß ich die Gurte an jenem Tag besonders fest geschnallt hatte. Doch die scippatori, die berühmten Handtaschendiebe auf ihren Vespas, ließen sich nicht blicken. Zweifellos ahnten sie, daß es bei mir nichts weiter zu holen gab als ein paar schmutzige Unterhosen, eine halbe Tafel Schokolade und eine zerfledderte Ausgabe von H. V. Mortons A Traveller in Southern Italy.
Die Neapolitaner sind an schlechte Zeiten gewöhnt. Nach dem Krieg herrschte ein solcher Hunger in der Stadt, daß die Leute alles aßen, was sie in die Finger bekamen, sogar sämtliche Fische in den Aquarien. Man schätzt, daß sich damals ein Drittel der Frauen prostituiert hat, nur um zu überleben. Und selbst heute verdient ein Arbeiter in Neapel
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