Wo bitte geht's nach Domodossola
einen Bogen durch die Bäume, um dann unvermittelt in einer Aussichtsplattform zu enden, die wie eine kleine Veranda im Himmel über einem atemberaubenden Abrund hing. Ich hatte das Gefühl, daß der Zufall mich an einen Ort geführt hatte, an dem seit Jahren kein Mensch mehr gewesen war, jedenfalls kein Tourist. Noch nie habe ich etwas auch nur halb so Schönes gesehen: Über den Hang auf der einen Seite ergoß sich das Städtchen Capri, auf der anderen Seite funkelten die Lichter der Häuser, die sich um die Bucht von Anacapri scharten, und vor mir fielen die Klippen schroff zum Meer ab, das in der Tiefe im sattesten Aquamarin gegen die Felsen schlug. Ich befand mich so hoch über dem Meer, daß ich das Donnern der Brandung nur als leises Flüstern wahrnahm. Die Scheibe des Mondes strahlte weiß vom blaßblauen Abendhimmel, eine leichte Brise spielte mit meinen Haaren, und in der Luft hing der Duft von Zitrusbäumen, Geißblatt und Kiefern. Vor mir lag, still und verlockend, das offene Meer. 250 Kilometer nichts als Wasser, bis Sizilien. Ich würde alles, wirklich alles tun, um diese Aussicht zu besitzen. Ich würde dafür durchs Feuer gehen. Ich würde meine Mutter an Robert Maxwell verkaufen und meine Staatsbürgerschaft ablegen. Ich würde sogar mit Andrew Neil die Haare tauschen. Dann bemerkte ich über mir, fast direkt über diesem geheimen Ort, die Veranda einer etwas zurückliegenden Villa. Es gab also jemanden, der diese Aussicht besaß, der jeden Morgen mit seinem Müsli und seinem Orangensaft, in einen Yves St. Laurent Bademantel gehüllt und mit Gucci Pantoffeln an den Füßen dort oben sitzen und auf dieses mediterrane Paradies hinausblicken konnte. Mir kam der Gedanke, daß dieser Jemand wohl Donald Trump sein müsse oder sein italienisches Pendant, jemand, der alle zehn Jahre ungefähr zwei Minuten in diesem Haus verbringt und dann so sehr damit beschäftigt ist, irgendwelche Geschäfte abzuwickeln und per Telefon die Leute über den Tisch zu ziehen, daß er keine Zeit für die Aussicht hat. Ist es nicht seltsam, wie ein solcher Reichtum für Reiche immer etwas von »Perlen vor die Säue« hat. Mit diesem entmutigenden Gedanken machte ich mich auf den Rückweg in die Stadt.
In einem fabelhaften, freundlichen, fast leeren Restaurant in einer Seitenstraße aß ich zu Abend. Ich saß an einem Fenster mit Blick aufs Meer und fühlte mich von all der Leichtigkeit und Vollkommenheit wie benommen. Ich begann, diese elende Art von Schuld zu empfinden, die nur verstehen kann, wer einmal unter Engländern gelebt hat – diese schreckliche Gewißheit, daß jegliches Vergnügen, das über eine Tasse milchigen Tee und einen Vollkornkeks hinausgeht, einem sündigen Laster gleichkommt. Instinktiv wußte ich, daß ich zu Hause dafür würde bezahlen müssen – ich würde ganze Abende in eisiger Zugluft sitzen, stundenlang durch matschige Moore stapfen und mindestens zweimal bei Wimpy essen müssen, bevor auch nur ein Teil meiner Schuld gesühnt wäre. Aber immerhin fühlte ich mich schuldig, weil ich mich den schönen Seiten des Lebens so hemmungslos hingegeben hatte, und dieser Gedanke tröstete mich ein wenig.
Es war nach acht, als ich das Restaurant verließ, doch in den benachbarten Läden herrschte noch reger Betrieb – man kaufte Wein und Käse, holte einen Laib Brot ab, ließ sich sogar noch die Haare schneiden. Die Italiener wissen sich die Dinge einzuteilen. Ich trank im Caffè Funicolare ein paar Bier und schlenderte dann zum Hauptplatz hinüber. Die deutschen und japanischen Touristen waren verschwunden. Vermutlich waren sie mit der letzten Fähre aufs Festland zurückgekehrt oder lagen längst in ihren Betten. Nun hatten die Einheimischen ihren Platz wieder für sich. Zu fünft oder sechst standen sie plaudernd in der warmen Abendluft, vor dem Hintergrund der in der Ferne leuchtenden Lichter von Neapel. Scheinbar war es hier üblich, sich nach dem Abendessen zu einem Schwätzchen auf dem Platz zu versammeln. Auf der Treppe der Kirche hockten die Jugendlichen, während die kleineren Kinder zwischen den Erwachsenen herumtobten. Jeder schien unglaublich glücklich zu sein. Ich sehnte mich danach, dazuzugehören, auf dieser grünen Insel mit der herrlichen Aussicht, den freundlichen Menschen und dem guten Essen zu leben und allabendlich zu diesem schönen Platz zu schlendern, um mit meinen Nachbarn zu plaudern. Ich hielt mich ein wenig abseits und sah den Leuten zu. Wie auf einer Cocktail Party
Weitere Kostenlose Bücher