Wo bitte geht's nach Domodossola
eines der Kinder, ein ungewaschenes, quasselndes Mädchen von etwa acht Jahren, fuhr mit einer solchen Hartnäckigkeit fort, mir eine Zeitung aufzudrängen, daß ich stehenblieb und sie mit fester Stimme und erhobenem Zeigefinger ermahnte. Eingeschüchtert zog sie ab. Und ich ging meiner Wege, mit dem aufrechten Gang eines Mannes, der sich auf der Straße zu behaupten weiß. Nach fünf Metern wußte ich instinktiv, daß mir etwas fehlte. Ich griff an die Innentasche meiner Jacke. Der Reißverschluß war auf, die Tasche war leer. In den fünf Sekunden, in denen ich dem Mädchen die Grundsätze des guten Benehmens auf der Straße näherzubringen versucht hatte, hatte sie es geschafft, in meine Jacke zu langen, den Reißverschluß der Tasche zu öffnen, ihre Hand hinein zu stecken, zwei Scheckhefte herauszuziehen und verschwinden zu lassen. Ich war nicht wütend. Ich war beeindruckt. Ich wäre kaum beeindruckter gewesen, hätte ich plötzlich in Unterhosen dagestanden. Ich untersuchte meinen Rucksack und meine übrigen Taschen, aber außer meiner Jacke hatte sie nichts angerührt. Das war wohl auch nicht nötig. Das Mädchen hatte Reiseschecks im Wert von 1500 Dollar erbeutet; kein schlechter Lohn für fünf Sekunden Arbeit. Natürlich war sie längst über alle Berge. Vermutlich saß sie schon in ihrem Zeltlager irgendwo in den Hügeln und feierte mit ihren vierundsiebzig nächsten Verwandten ein rauschendes Fest.
Ich begab mich zur Polizeiwache im Bahnhof. Doch der diensthabende Beamte fühlte sich in seiner Sonntagsruhe gestört und verwies mich an die Questura, die zentrale Polizeistation. Er rührte sich nicht vom Fleck, als wären seine Füße auf dem Schreibtisch festgenagelt. Auf die Idee, nach den kleinen Tätern zu fahnden, wäre er nie gekommen. Widerwillig notierte er mir die Adresse der Polizeistation auf einen Fetzen Papier, den ich ihm zuvor gereicht hatte.
Ich eilte hinaus, kletterte in ein Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse. »Taschendiebe?« fragte er und betrachtete mich im Rückspiegel, während wir durch die Straßen von Florenz rasten. Die Fahrt zur Questura war offensichtlich Teil seiner Sonntagsmorgen-Routine.
»Ja«, sagte ich ein wenig verlegen.
»Zigeuner«, fügte er verächtlich hinzu und tat, als würde er ausspucken. Damit war unsere Unterhaltung beendet. In der Questura führte man mich in ein Wartezimmer, ein hoher Raum, in dem die graue Farbe von den nackten Wänden blätterte und in dem bereits drei Leute warteten. Gelegentlich erschien ein Polizist oder eine Polizistin und rief einen nach dem anderen auf. Ich wartete eine Stunde. Andere Leute kamen und wurden vor mir aufgerufen. Schließlich betrat ich eine der Vernehmungskabinen im Gang um die Ecke und wurde barsch aufgefordert, in den Warteraum zurückzukehren.
Also holte ich Fodor’s Guide to Italy, meinen ItalienReiseführer, aus dem Rucksack und studierte die im Anhang aufgelisteten italienisch-englischen Redewendungen, auf der Suche nach einer italienischen Formulierung, die die Begegnung mit schmuddeligen Zigeunerkindern in Worte faßt. Doch die Liste enthielt lediglich die für Reiseführer so typischen Sätze wie: »Wo kann ich Seidenstrümpfe/einen Stadtplan/Filme kaufen?« und »Ich brauche: Rasierklingen/einen Haarschnitt/ eine Rasur/ein Haarshampoo.« Diese absolut nutzlosen Redewendungen in Reiseführern faszinieren mich immer wieder.
Nehmen wir diesen Satz aus dem Fodor’s, den ich hier wortwörtlich zitiere: »Würden Sie mir bitte um sieben Uhr/um zehn Uhr/um halb elf/heute mittag/um Mitternacht/heute/morgen/übermorgen ein Bad einlassen?« Wieso sollte sich jemand für übermorgen um Mitternacht ein Vollbad bestellen wollen? In diesen Büchern erfährt man nicht, wie man »Guten Morgen« oder »Guten Abend« sagt, statt dessen lernt man, wie man im Geschäft nach Seidenstrümpfen fragt und mit welchen Worten man das Zimmermädchen bittet, einem rund um die Uhr das Badewasser einzulassen. Was glauben die eigentlich, in was für einer Welt wir leben?
Staunend las ich weiter: »Wir möchten ein Badehäuschen für zwei Personen/einen Sonnenschirm/drei Liegestühle.« Warum drei Liegestühle, aber ein Badehäuschen für zwei Personen? Wer muß sich draußen umziehen? Hat etwa ein notorischer Spanner diese Liste zusammengestellt, um sich das Buch für seine persönlichen Zwecke zunutze zu machen?
Andere Formulierungen ließen jedoch eher darauf schließen, daß es sich bei dem Verfasser um eine
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