Wo Dein Herz Zu Hause Ist
und vor allem litt sie selbst. Sie war immer nur unendlich müde. Sie konnte es kaum ertragen, ihre beiden Kinder allein lassen zu müssen.
Melissa brauchte eine Auszeit. Melissa brauchte Ruhe. Melissa musste mit sich ins Reine kommen. Seit Jacobs Geburt tat sie so, als sei sie dieselbe wie zuvor. Doch das stimmte nicht, und nun forderte die Lüge ihren Tribut.
18. August 1975 Montag
Wir haben unser Zelt bei Brittas Bay auf der Wiese aufgebaut, von wo aus wir meilenweit über die Sanddünen schauen konnten. Na ja, vielleicht war es nicht meilenweit, aber so kam es mir vor. Das Wetter war gut, als wir ankamen (übrigens sind wir mit dem Fahrrad hingefahren, und ich war völlig fertig), und deshalb waren wahnsinnig viele Leute da. Massen von Dublinern, die einen Tagesausflug machten, und Kinder mit bunten Klamotten und Eiscreme und Sandschaufeln, und alte Frauen in dunklen Kleidern, die sich Handtücher umgehängt hatten, obwohl sie sich über die Hitze beklagten. Viele schwammen im Meer, am Strand waren Spaziergänger, überall wurde fröhlich gerufen und herumgetollt, die Möwen schrien, Mütter planschten mit ihren Kindern, und die Kinder planschten mit den anderen Kindern, und die Männer haben Fußball gespielt, und die Wellen sind zischend über den Strand gelaufen, und die Sonne hat uns den Rücken gewärmt und auf dem Wasser geglitzert, und die Luft hat mich umhüllt wie ein gemütlicher alter Pullover, und die ganze Zeit lief überall eine Musik, die Matthew
Sonnensongs
genannt hat. Dieses Wochenende werde ich nie vergessen.
Matthew hat das mit dem Zelt übernommen. Er war früher bei den Pfadfindern und kannte sich damit aus, wie man ein Zwei-Mann-Zelt aufstellt, das er zusammen mit dem Schlafsack auf dem Gepäckträger seines Fahrrades mitgebracht
hatte. Er hat wirklich viel Kraft und eine gute Körperbeherrschung. Das kommt bestimmt davon, dass er so viel auf Nero geritten ist. Ich war jedenfalls halbtot, als wir ankamen, obwohl ich nur das Radio, unsere Zahnbürsten und ein paar Klamotten auf dem Fahrrad hatte. Es war so heiß, dass wir nicht viele Sachen zum Anziehen brauchten. Und das war gut so, denn ich hätte auf keinen Fall mehr auf meinen Gepäckträger laden können. Ungefähr um acht Uhr abends wurde es am Strand ruhig, und da haben wir uns zusammengekuschelt und aufs Wasser gesehen. Das wird nie langweilig. Man könnte denken, man bekäme es irgendwann über, aber so ist es nicht, ich weiß auch nicht warum. Wir haben uns am Laden unten an der Straße ein paar Sandwiches gekauft und sie gegessen und ein paar Dosen Harp getrunken. Ich mag den Geschmack von Bier immer noch nicht, aber es bringt mich zum Lachen. Na ja, es ist eher Matthew, der mich zum Lachen bringt, aber es wird eindeutig alles ein bisschen lustiger, wenn ich Bier getrunken habe. Ein Mann ist mit seinem Hund am Strand spazieren gegangen. Es war schon zehn Uhr vorbei und immer noch ein bisschen hell. Der Hund ist seinem Schwanz nachgejagt, und der Mann hat dagestanden und ihm dabei zugesehen. Irgendwann ist der Hund müde geworden, ist zu dem Mann zurückgelaufen und an ihm hochgesprungen. Der Mann hat ihn gestreichelt und umarmt, als würde er einen Menschen umarmen. Der Hund hat gehechelt, ist wieder weggerannt, und der Mann ist ihm gefolgt, während der Hund vor lauter Freude über seine Freiheit laut gebellt hat. Der Mann war zu weit entfernt, als dass ich sein Gesicht richtig hätte sehen können, aber ich bin sicher, dass es ein freundlicher Typ war. Ich wette, das war ein richtig netter Typ. Vermutlich hat er einen guten Job; vielleicht ist er Arzt oder Bankangestellter,
und bestimmt ist er verheiratet und liebt seine Frau. Vielleicht hat er auch Kinder, und die müssen ihre Zimmertür nachts bestimmt nicht abschließen. Wahrscheinlich haben sie nicht mal Schlösser an ihren Türen, ganz zu schweigen von so einem riesigen Vorhängeschloss, wie es Matthew an meine Tür geschraubt hat – es ist unheimlich praktisch.
Wir haben also das Meer betrachtet, und Matthew war ziemlich still und irgendwie ganz weit weg. Ich wusste, an was er dachte. Noch zwei Wochen. In zwei Wochen muss er zurück ins Internat. Wir versuchen nicht daran zu denken, aber das ist ganz schön schwer, wenn in allen Läden die Sachen zum neuen Schuljahr verkauft werden. Wir wollen für den Moment leben, aber wie können wir das, wenn wir wissen, dass unser Leben, so wie es jetzt ist, bald vorbei sein wird? Bin ich jetzt schon so theatralisch wie
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