Wo Dein Herz Zu Hause Ist
verschrieben hatte. Zu Hause badete sie die beiden, gab ihnen ihre Medizin und legte sie schlafen. Dann schenkte sie sich einen großen Whiskey ein und brach erneut in Tränen aus.
Ich schaffe das einfach nicht mehr.
Melissas Problem bestand nicht nur darin, dass sie vollkommen erschöpft war und ihr Ehemann kaum eine Hilfe war. Ihr Hauptproblem war, dass sie sich selbst immer fremder wurde. Früher war sie eine engagierte und hochprofessionelle Angestellte gewesen, die von den Kunden mit Komplimenten überschüttet worden war. Sie hatte einen sehr guten Schulabschluss, die Uni war ein Klacks für sie gewesen, und sie hatte schon immer eineerfolgreiche und erfüllende Karriere machen wollen. Ihre Mutter hätte von so etwas nicht einmal träumen können.
Melissas Berufsleben war aufregend, interessant und brachte viel ein. Sie hatte ein dickes Bankkonto und konnte sich manches leisten. Sie wurde respektiert und war zufrieden. Das Leben hatte es gut mit ihr gemeint. Dann hatte sie Jacob bekommen. Sie war glücklich gewesen, als sie feststellte, dass sie schwanger war. Natürlich hatte sie genau geplant, wie es laufen würde. Schon als sie im sechsten Monat war, hatte sie eine perfekte Kinderfrau gefunden. Ihr Mutterschaftsurlaub würde so kurz wie möglich ausfallen, und dann wäre sie wieder im Büro. Sie wusste, dass sie zu Beginn ein paar Probleme haben würde, aber das war ja bei jeder neuen Herausforderung so. Es war natürlich auch unmöglich, für jede Eventualität vorauszuplanen, aber sie war zuversichtlich, dass sie schon alles schaffen würde, wenn sich erst einmal eine Routine eingespielt hätte.
Auf Schuldgefühle jedoch hatte sich Melissa nicht eingestellt. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie mit der Mutterrolle Sorgen kennenlernen würde, von denen sie nichts geahnt hatte, und damit eine Liebe, die einfach überwältigend war, sodass sie nichts wollte, als immer nur bei ihrem Baby zu bleiben. An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal wieder im Büro war, verbrachte sie eine Stunde weinend in der Toilette. Sie hatte geglaubt, es wäre nicht so schwer, Jacob allein zu lassen, aber das stimmte nicht. Sie hatte geglaubt, sie würde dem Drang widerstehen können, fünfundzwanzig Mal täglich zu Hause anzurufen, aber auch das stimmte nicht. Sie hatte geglaubt, sie könnte diese winzige Zone in ihrem Gehirn abschalten, die sie ständig daran erinnerte, wonach sie sich sehnte.Sie hoffte, dass wieder Normalität einkehren und sie sich wieder in die zielstrebige, leidenschaftliche Karrierefrau zurückverwandeln würde, die sie zuvor gewesen war. Doch es kehrte keine Normalität ein, und Melissa fühlte sich von den zwei Rollen, die sie auszufüllen hatte, überfordert. Sie hatte doch nicht Jahre an der Uni investiert und sich anschließend mühsam hochgearbeitet, um jetzt alles hinzuwerfen. Und man musste sich ja nur einmal umsehen: Viele Frauen kamen bestens damit zurecht, ihre Kinder zu Hause zu lassen und arbeiten zu gehen. Die vierfache Mutter Denise Green zum Beispiel hatte nicht nur gesagt, dass die Arbeit sie genauso erfüllte wie früher, sondern auch, dass sie ohne ihre Arbeit schon längst verrückt geworden wäre.
Melissa war ihre vermeintliche Unfähigkeit peinlich; sie leugnete und unterdrückte den Wunsch, ihren Platz in der Männerwelt aufzugeben, für den andere Frauen vor ihr so schwer gekämpft hatten, ihren Wunsch, ins traute Heim an den Herd zurückzukehren. Wie gerne hätte sie mit ihrem Sohn Kuchen gebacken, gespielt, ihn aufwachsen sehen, wie gern wäre sie für ihn da gewesen, seine Mum, die nicht ins Büro musste.
Irgendwann hatte sich dann so etwas Ähnliches wie eine Routine eingestellt. Es war Melissa gelungen, ihre Arbeit und die Familie unter einen Hut zu bringen, und es passierte nur in den Augenblicken, in denen ihre perfekte Kinderfrau anrief, um ihr zu erzählen, dass Jacob zum ersten Mal aufgestanden oder ein paar Schrittchen gelaufen war oder dass er in die Hände geklatscht und sie Mama genannt hatte, dass ihr Herz schwer wurde und neue Zweifel kamen.
Und was wäre, wenn ich zu Hause bliebe?
Natürlich war das ein lächerlicher Einfall. Sie würdeverrückt werden, genau wie Denise Green gesagt hatte. Sie war eine Karrierefrau, kein Muttertier. Aber dann war Carrie auf die Welt gekommen, und mit ihr verdoppelte sich der Aufwand, und Melissas innere Zerrissenheit verdoppelte sich auch. Ihre Arbeit begann unter der Situation zu leiden, ebenso wie ihre Kinder und ihre Ehe litten,
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