Wo Dein Herz Zu Hause Ist
musste.
In diesem Moment klingelte ihr Handy. Melissa sah an der Nummer auf dem Display, dass es ihr Chef war, und überlegte kurz, ob sie den Anruf ignorieren sollte. Doch Melissa war, anders als ihr Ehemann, den sie am liebsten erwürgt hätte, noch nie in der Lage gewesen, nicht aufeinen Anruf zu reagieren. Sie ließ Jacobs Hand los und hielt das Handy ans Ohr. Ihr Chef berichtete missmutig, dass die Kunden nicht besonders erfreut über die Tatsache gewesen waren, dass Melissa einfach aus dem Meeting verschwunden war.»
«Mum!»
«Eine Sekunde, Jacob.» Carrie brüllte ihr immer noch ins Ohr. «Kann ich mich morgen darum kümmern?»
«Mum!»
«Eine Minute, Jacob.»
«Ich brauche dein Passwort. Ich habe versprochen, ihnen die PowerPoint-Unterlagen zu deiner Präsentation zu schicken. Das ist das Wenigste, was wir tun können.»
«Kann ich das nicht morgen früh machen?»
«Mir ist es lieber, wenn sie die Sachen sofort bekommen.»
«Ich würde es aber lieber selbst machen.»
«Tja, es wäre uns allen lieber, wenn du es selbst machen würdest, Melissa, aber dummerweise bin ich im Büro und du bist es nicht.»
Sie wandte ein, dass sie sich nicht wohl damit fühlte, wenn jemand anderes an ihren Computer ginge. Jim dagegen erklärte, um Wohlfühlen gehe es hier auch nicht, schließlich habe sie mit ihrem Verhalten riskiert, dass die Firma den Kunden verliert. Melissa seufzte und senkte abwesend den Blick, wo bis eben noch ihr Sohn gestanden hatte. Er war weg. Sie sah sich um. Jacob war nicht zu sehen.
«Jacob!», rief sie in den Hörer. «Jacob!», rief sie noch einmal. Gleichzeitig verließ sie die Kassenschlange und suchte zwischen den nächsten Warenregalen nach Jacob.
«Melissa, was ist denn los?», fragte Jim.
«Jacob – er ist weg», sagte sie, während sie schon zwischen den nächsten Regalen entlangrannte. «Jacob!»
Sie drückte das Gespräch weg und rief so laut nach ihrem Sohn, dass der Geschäftsführer zu ihr kam. Zusammen mit einer Verkäuferin namens Jane suchten sie das ganze Geschäft ab, aber Jacob war nicht da. Er war verschwunden. Inzwischen liefen Melissa genauso die Tränen über die Wangen wie ihrer Tochter. Dann setzte sie sich einfach auf den Boden und weinte hemmungslos. Der überforderte Geschäftsführer tat sein Bestes, um sie zu beruhigen, und Jane lief in die Geschäfte nebenan und fragte, ob ein kleiner Junge namens Jacob gesehen worden war. Ein paar Leute vom Sicherheitsdienst kamen dazu.
Melissa zitterte jetzt, während Carrie vor Schreck verstummt war. «Er hat neben mir gestanden, und dann war er weg», wiederholte Melissa. «Ich habe ihn an der Hand gehabt, aber dann hat mein Chef angerufen.» Sie weinte wieder. «Oh Gott, wo ist er?» Es kam ihr nicht in den Sinn, ihren Mann anzurufen. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere, Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nichts tun, als immer wieder die gleichen Sätze zu wiederholen. «Er fühlt sich nicht gut», sagte sie mehrere Male. Bilder von vermissten Kindern tauchten vor ihr auf. Jamie Bulger zum Beispiel war in einem Einkaufszentrum entführt worden, und als man ihn gefunden hatte, war er tot gewesen.
Oh Gott!
Carrie klammerte sich mit weit aufgerissenen Augen an ihre Mutter. Und Melissa klammerte sich an ihre kleine Tochter und flüsterte Gebete in ihr Ohr.
Bitte, es darf ihm nichts passiert sein. Bitte, er soll zurückkommen.
Zwanzig lange Minuten vergingen, bis ein Wachmannnamens Tim mit Jacob an der Hand auftauchte. Als sie ihn sah, schluchzte Melissa, die nicht aufgehört hatte zu weinen, laut auf. Jacob, dem der Anblick seiner hysterischen Mutter Angst machte, tat vor Schreck dasselbe, was wiederum Carrie irritierte, die auch wieder anfing zu brüllen. Melissa schloss ihren verlorenen Sohn so fest in die Arme, dass der Wachmann sie trennte, weil er befürchtete, sie würde Jacob ersticken. Als sie sich weitere zehn Minuten später endlich alle etwas beruhigt hatten, konnte Tim erklären, dass er Jacob in der Toilette gefunden hatte.
«Ich musste mal», sagte Jacob. «Ich konnte nicht warten.»
Melissa schimpfte nicht mit ihm. Er hatte schließlich versucht, sie auf sich aufmerksam zu machen. Das Kind hatte Durchfall, und sie hatte ihn ignoriert, weil sie sich unbedingt mit ihrem Chef wegen einer blödsinnigen Kundenpräsentation hatte streiten müssen. Sie nahm sich zusammen, dankte dem Geschäftsführer, Jane und Tim und verließ die Apotheke mit dem Medikament, das der Arzt den Kindern
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