Wo Dein Herz Zu Hause Ist
versucht, Matthew von dem Telefonhäuschen in der Stadt aus anzurufen, aber sie wollten mich nicht mit ihm sprechen lassen. Diese Schule ist das reinste Gefängnis. Das kann doch nicht richtig sein. Alles läuft falsch. Ich kann nicht schlafen. Ich habe schon seit drei Tagen Kopfschmerzen.
Letzte Woche hatte ich einmal vergessen, meine Tür abzuschließen. Ich vergesse es nie, aber irgendwie ist es mir trotzdem passiert. Ich bin aufgewacht, weil
er
auf mir lag und mir die Hand aufs Gesicht gepresst hat. Ich wollte schreien, aber es kam kein Ton heraus. Es war, als wäre ich plötzlich stumm. Ich konnte mich in meinem Kopf schreien hören, aber von außen hörte man nichts. Er hat mich betatscht und versucht, mir die Beine auseinanderzudrücken,
aber ich habe es geschafft, sie zu kreuzen und zusammenzuhalten wie einen Schraubstock. Er hätte sie mir schon brechen müssen. Dann ist er mit seiner Hand abgerutscht, und ich habe ihn gebissen, so fest ich konnte. Als er losgejault hat, rief meine Mutter von ihrem Schlafzimmer aus: ‹Wer ist da?› Dann habe ich gehört, wie sie durch den Flur kam. Da hat er mir eine Ohrfeige gegeben und ist rausgerannt.
Er hat das Vorhängeschloss mitgenommen, das Matthew eingebaut hat, also habe ich Dr. B. um einen Kredit gebeten, weil ich kein Geld mehr habe, nachdem die Schule wieder angefangen hat und ich mir in der Pause etwas zu essen kaufen muss und außerdem dieses blöde Buch bezahlen musste, das ich schon wieder verloren habe. Davon abgesehen wollte ich, dass Dr. B. mich fragt, wofür ich das Geld brauche. Ich wollte es ihm erzählen. Und er hat gefragt, und ich habe es ihm erzählt. Danach wollte er mich nicht mehr nach Hause gehen lassen. Er hat erklärt, ich solle bei ihm im Pförtnerhaus übernachten und er würde sich inzwischen etwas einfallen lassen.
Er hat Father Ryan angerufen und Tee gekocht. Und als Father Ryan da war, sind sie ins andere Zimmer gegangen, und ich konnte nicht hören, was sie besprochen haben. Danach hat Father Ryan zu mir gesagt, meine Anschuldigung sei sehr ernst und ob mir klar sei, dass Gott alles sieht. Da habe ich gesagt, wenn das stimmt – und weil Father Ryan ja einen direkten Draht zu ihm hat –, könnte er ihn ja selber fragen, was passiert ist. Das war frech, aber er hat mich nicht zurechtgewiesen, sondern nur genickt und gesagt, er würde sich darum kümmern. Er fand auch, dass es das Beste wäre, wenn ich bei Dr. B. übernachte, aber nur, wenn seine Haushälterin Minnie Jones auch käme. Minnie war ziemlich schlecht gelaunt, als sie um kurz nach acht geklingelt hat.
Sie ist früh schlafen gegangen, und Dr. B. und ich haben noch ewig geredet. Er hat gesagt, ich müsste nicht zurückgehen, wenn ich nicht wollte. Aber ich habe ihm erklärt, dass ich wieder nach Hause müsste, weil sich jemand um meine Mutter kümmern muss. Er hat gesagt, Father Ryan würde
ihn
zur Vernunft bringen. Darüber konnte ich bloß lachen. Dr. B. und der arme Father Ryan! Die glauben wirklich, man könnte jemanden wie
ihn
zur Vernunft bringen! Mit so einem kann man nicht reden. Dr. B. hätte mir am besten einfach nur das Geld für das Schloss geben sollen.
Father Ryan hat mit
ihm
geredet, und er hat es abgestritten, und Father Ryan hat sich einen Faustschlag eingehandelt. Als ich wieder nach Hause gegangen bin, hat
er
mich eine verlogene kleine Hure genannt. Mam scheint überhaupt nicht mitbekommen zu haben, was los ist, sie hat sich benommen, als ginge es bloß um die übliche Streiterei. Dr. B. ist vorbeigekommen, und
er
hat ihm gedroht, aber Dr. B. hat sich nicht einschüchtern lassen. Er hat gesagt, er wird genau aufpassen, und wenn er auch nur den kleinsten Verdacht hat, ruft er die Polizei, und wenn die Polizei nicht kommen will, dann ruft er ein paar Freunde, die sich einen Dreck um die Kirche oder das Gesetz scheren und ihm die Visage einschlagen, sobald sie ihn zu fassen bekommen. Da hat
er
Angst bekommen. Das habe ich genau gesehen. Er hat mich angesehen, als sei ich an allem schuld, und nachdem Dr. B. wieder weg war, hat er mich angespuckt. Mam hat im Bett gelegen und geschlafen, aber ich glaube, sie hat nur so getan als ob. Sie kann mit dieser Situation nicht umgehen. Sie ist einfach nicht in der Lage dazu. Dr. B. hat mir ein neues Vorhängeschloss gekauft, und ich werde nie mehr vergessen, meine Tür abzuschließen.
Ich habe Matthew geschrieben, und er hat zurückgeschrieben.
Ich habe seine Briefe gefaltet
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