Wo Dein Herz Zu Hause Ist
bist? Deine Eltern machen die Hölle durch, und deine Schwester braucht dich.»
«Meine Eltern haben selbst dafür gesorgt, dass sie durch die Hölle müssen. Und Harri? Die versteht mich wenigstens und versucht auch nicht ständig, mich zu ändern.»
«Im Gegensatz zu mir», sagte Aidan nickend. «An diesem Punkt landen wir jedes Mal, oder?»
«Ja, sieht so aus», sagte George und trank einen Schluck.
«Manchmal bist du wirklich unausstehlich.»
«Dann fahr doch nach Hause!», zischte George, stand auf und verschwand die Straße hinunter. Er kam an diesem Abend nicht mehr in ihr Hotelzimmer. Stattdessen nahm er sich ein Einzelzimmer.
Aidan verbrachte eine schlaflose Nacht. Gegen Mittag fuhr er zum Flughafen und bestieg die Maschine nach Irland.
Du bist ein echtes Arschloch, George. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte
.
Harri wurde von der Klingel geweckt. Sie wappnete sich, weil sie schon ahnte, dass ihre Mutter vor der Tür stand, beziehungsweise die Frau, die sich als ihre Mutter ausgegebenhatte. Sie öffnete und hatte eine blasse, erschöpfte und sichtbar mitgenommene Gloria vor sich.
«Hallo, Liebling», sagte sie.
«Hallo, Mu … m.» Harri konnte das Wort kaum aussprechen.
Ihre Mutter zuckte zusammen. «Bekomme ich bei dir einen Kaffee?», fragte sie dann mit einem kläglichen Lächeln und zwang sich, die Hände von ihrem Hals wegzulassen.
Gloria folgte ihrer Tochter und setzte sich an den Küchentresen, während Harri den Kaffee aufsetzte.
«Wie war es in Wexford?», fragte sie.
«Höllisch.»
«Ja. Das habe ich mir schon gedacht.»
Harri konnte nicht stillsitzen. Stattdessen goss sie die Pflanzen auf dem Fensterbrett, wischte die Arbeitsplatte ab und rückte ihren Stuhl zurecht.
Nach einem langen Schweigen sagte Gloria: «Du hast bestimmt viele Fragen.»
«Millionen», sagte Harri, «aber ich bin nicht sicher, ob ich schon bereit bin, die Antworten zu hören.»
Sie reichte ihrer Mutter einen Becher und schenkte ihr ein Gebräu ein, das mehr an Tee als an Kaffee erinnerte. Gloria beschwerte sich nicht.
«Soll ich dir erzählen, wie es damals für mich war?»
Harri nickte. Ihre Mutter wirkte sehr verletzlich und verängstigt, und Harri wusste, dass sie mit ihr litt.
Gloria atmete tief ein. Dann schloss sie einen Moment lang die Augen, bevor sie anfing zu sprechen. «Ich war verrückt vor Trauer. Und zu der Trauer kam noch etwas anderes dazu. Unvermittelt setzte auch noch ein verfrühtes Klimakterium ein. In den siebziger Jahren war dasmehr oder weniger noch ein Tabuthema, es gab noch nicht dieselben Therapien wie heute, und davon abgesehen war es undenkbar, über seine Gefühle dabei zu sprechen oder womöglich zu sagen, dass es einem nicht gutging, wenn man gefragt wurde.» Sie holte erneut tief Luft und trank einen Schluck von ihrem scheußlichen Kaffee. «In den ersten Wochen, nachdem sie mich in die Psychiatrie überwiesen hatten, glaubten die Ärzte, ich sei eine Gefahr für mich selbst und vielleicht auch für George. Kann sein, dass das stimmt, ich erinnere mich an kaum etwas aus dieser Phase. An die Station erinnere ich mich allerdings sehr gut. Es waren viele Frauen dort, ein paar ältere, ein paar in meinem Alter und dann noch eine Teenagerin – sie hieß Sheena. Als ich ihren Namen zum ersten Mal hörte, fand ich ihn unheimlich exotisch.» Sie strich ihren Rock glatt.
Harri stand schweigend neben dem Küchentresen.
«Die arme Kleine hatte schon neun Selbstmordversuche hinter sich. Sie war erst achtzehn. Ein süßes Ding, das von einem überwältigenden Gefühl der inneren Leere und der Hoffnungslosigkeit aufgefressen wurde. Man konnte nur ahnen, wie furchtbar das Leben manchmal für sie war. Sheena und ich gingen öfter zusammen im Flur auf und ab. Manchmal unterhielten wir uns dabei, aber wir schwiegen auch viel. Als ich sie drei Wochen kannte, brachte ihre Mutter ihr eines Tages ein paar Sachen mit: Schokolade, Zahnpasta, eine Zeitschrift. Eine Stunde nachdem ihre Mutter wieder gegangen war, wurde Sheena tot im Badezimmer gefunden. Sie hatte sich mit der Plastiktüte erstickt.»
«Oh nein!», sagte Harri, die ganz in der Geschichte des jungen Mädchens aufgegangen war. Was für eine Tragödie.
«Am nächsten Tag bin ich nach Hause», fuhr Gloria fort. «Nach dem, was passiert war, konnte ich einfach nicht mehr dort bleiben. Duncan brachte mich zurück zu George und Nana, aber es ging mir immer noch nicht gut. Ich hielt mich mit Medikamenten aufrecht,
Weitere Kostenlose Bücher