Wo der Elch begraben liegt
sollte. Erik und Johan hatten sich genauso darum gestritten, wie sie und ihre Geschwister es getan hatten, als sie noch Kinder waren. Vorsichtig nahm sie den schönsten Eierbecher aus dem Schrank. Er war aus glänzendem Porzellan und hatte einen kleinen Hahnenkopf. Früher war der Kamm dunkelrot gewesen, jetzt war er blassrosa. Ganz vorn am Schnabel fehlte ein kleines Stückchen Porzellan. Sie konnte sich genau an den Augenblick erinnern, als sie und Birgitta kämpfend darum gestritten hatten, wer den schönsten Becher bekommen sollte. Birgitta hatte mit einem energischen Ruck den Sieg davongetragen, doch infolge der heftigen Bewegung ihren Griff gelockert. Der Becher war über die Tischkante gerollt, auf den Boden gefallen und hatte einen kleinen, aber wichtigen Teil verloren. Mama war angelaufen gekommen und hatte mit wütender Stimme gefragt, was passiert war. Obwohl sie sich eigentlich gezankt hatten, waren Birgitta und Gunnel in jenem Moment zu einer geeinten Front zusammengerückt: Alles sei in Ordnung, sie spielten bloß. Damals war alles noch so gewesen, wie es sein sollte. Jörgen lebte, Birgitta war ein Teil der Familie. Gunnel stellte den Becher weg, schloss den Küchenschrank und ging ins andere Stockwerk hinauf. Sie lief durch den Flur, am Nähzimmer und am Schlafzimmer vorbei und weiter bis in die alte Kinderstube, wo sie und Birgitta einst gewohnt hatten. Gunnel öffnete den braunen Eckschrank und tastete die rechte Ecke des oberen Fachs ab. Mit zitternden Händen nahm sie den Stapel mit alten Briefen heraus. Behutsam setzte sie sich auf die gehäkelte Tagesdecke und knotete die braune Schnur auf, die den Stapel zusammenhielt. Irgendwo im Hinterkopf konnte sie die Ermahnung ihrer Mutter noch genau hören: » Wir lesen keine Briefe von einer Hure. Sie soll dich mit ihren Gedanken nicht beschmutzen. Es ist zu deinem eigenen Besten, Gunnel.«
Gunnel schickte ein Stoßgebet zur Decke, seufzte tief und öffnete vorsichtig den obersten Umschlag. Schweigend las sie den kurzen Brief und brach dann in ein lautloses Weinen aus. Wie hatten sich Mutter und Vater nur von ihrem eigenen Kind abwenden können? Sie hatten es geopfert. Für wen? Wozu?
Fridas Stockholmbesuch hatte sich zwar ganz anders als geplant gestaltet, doch sie hatte in dem breiten Bett im Hotel Mornington in der Nybrogatan richtig gut geschlafen und sich in dem luxuriösen Badezimmer ein langes Bad gegönnt. Die Fußbodenheizung, die großen Spiegel, die hellen Halogenlampen und die glänzenden Oberflächen waren ungewohnt. Während der letzten Monate hatte sie sich an winzige, schlecht beleuchtete Räume beinahe gewöhnt. Am reichhaltigen Frühstücksbüfett ließ sie das Müsli außer Acht und aß Bacon, Rührei und eine große Portion Obstsalat. Sie trank Tee und Kaffee, las Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet und fühlte sich sehr… urban. Als sie an den vergangenen Abend im East dachte, schmerzte es sie erstaunlicherweise weniger, als sie gedacht hätte. Im Gegenteil. Sie musste lachen, weil sie es im erforderlichen Moment endlich geschafft hatte, etwas zu sagen. Klasse. Das fühlte sich wirklich klasse an.
Frida überlegte, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollte. Sie versuchte, Magnus Nyström von Cartago für ein eventuelles Interview ans Telefon zu bekommen, doch er hatte frei und war nicht erreichbar. Frida entschied sich, einen Spaziergang durch die Innenstadt zu machen, dann nach Jakobsberg zu fahren und das Gespräch mit Johan fortzusetzen und anschließend nach Hause zu fahren. Nach Hause? Doch ja, beinahe betrachtete sie es mittlerweile so.
Als sie an der Hotelrezeption auscheckte, wurden gerade die Zeitungen angeliefert. Schnell blätterte sie zur Entertainment-Seite des Aftonbladet vor. Neue Platte von Magnus Uggla, amerikanische Doku-Soap in Schweden, Leitungswechsel im Schauspielhaus Dramaten. Ganz unten auf der Seite, unter einer großen Anzeige für Kolmårdens Tierpark, gab es ein Bild aus dem East mit dem Popsternchen und seiner Entourage. Die Überschrift lautete: Popstar letzte Nacht auf Party in Stockholm. Unter dem Foto stand lediglich eine zweizeilige Bildunterschrift mit ungefähr dem gleichen Inhalt. Das war alles. Kein Peter, keine Verfasserzeile.
» Soll ich die Zeitung auf die Rechnung setzen?«, fragte der Typ hinter dem Tresen.
» Nein danke«, erwiderte Frida. » Die werde ich nicht brauchen.«
» Sie haben recht«, sagte der junge Mann mit einem Lächeln. » Da steht ja sowieso nichts
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