Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
erwog ein paar Momente lang, ihr das unumwunden zu sagen. Dann redete er aber einfach weiter.
„Ilona. Ich habe irgendwann kapiert, warum Dutschke und Krahl so radikale Reden schwingen. Vietnam kommt ja auch noch dazu. Man hat uns nichts gesagt über den Nationalsozialismus. Es wimmelt überall nur so von ehemaligen Nazis, die ihre Strafe nie bekommen haben und sich heute in Sonntagsreden verstecken. Dieses Land wird von Verbrechern geführt.“
Manfred bemerkte, dass Ilona zur Seite schaute.
„Also gut“, fuhr er fort, „ich kann mir vorstellen, dass ich vielleicht bei dem Thema auch mal zur Übertreibung neige. Ich will dir nur klar machen, wie es dazu kommt, dass ich mich mit dem Nationalsozialismus beschäftige, obwohl ich nichts davon habe, keinen Schein, nichts, gar nichts. Und was fiel mir ein, als ich dabei an unsere kleine Stadt Neuenkirchburg denken musste? Du warst dabei, Ilona. Danach haben wir uns nicht mehr oft gesehen... Guck jetzt nicht so.“
„Wie guck' ich denn?“
„Auf jeden Fall hübsch... Was mir einfiel, als ich an unsere kleine Stadt denken musste, war die Rede von Schulleiter Adolf Wegemann auf eurer Abifeier. Seine Rede, begleitet von ständigem Beifall von Zuhörern, die in ihrer Berauschtheit über ihren kommenden sozialen Aufstieg in dem Moment über alles geklatscht hätten, was man ihnen sagt – das war fast ähnlich wie bei den Naziaufmärschen...“
„Du übertreibst wirklich, Manfred.“
„Sag' ich doch! Ich habe Jahre gebraucht, um das Selbstbewusstsein zu bekommen, mich aufzuregen... Adolf Wegemanns Rede war ein Rückblick auf einhundert Jahre humanistisches Gymnasium in Neuenkirchburg. Der Mann konnte reden, bedächtig, dabei endete jeder Absatz mit einer kleinen Pointe. Ein Kunststück, so etwas hinzukriegen. Und inhaltlich ging er richtig würdevoll mit der Zeit um – jedes Jahrzehnt bekam seinen Raum, aus jeder Dekade erzählte er eine Anekdote... Aus wirklich jeder Dekade, Ilona? Von wegen. Nach einer Geschichte über das Sozialverhalten von Schülern im harten Winter 1928 folgte etwas aus dem Jahre 1955. Verstehst du, was das heißt? Den Nationalsozialismus gab es für Adolf Wegemann einfach nicht. Lag das möglichweise daran, dass es das ehrwürdige humanistische Gymnasium in dieser Zeit nicht gab? Könnte ja sein, denkt ein wohlwollender Beobachter vielleicht. Könnte ja sein, dass es die Schule zwischen 1933 und 1945 wirklich nicht gab. Hatten halt dicht gemacht! Wer weiß, warum! Die Schüler hatten keine Lust mehr, die Lehrer auch nicht! Alle waren sich einig, dass es etwas Sinnigeres im Leben geben muss als Latein zu lernen... Aber Ilona, du wirst nicht überrascht sein, so war es nicht. Die Schule stand in der Nazi-Zeit nicht einfach denkmalgeschützt so da rum, sondern ging ganz normal ihrer Funktion als Lehranstalt nach. Was normal halt damals so hieß! Kannst du begreifen Ilona, warum ich nach allem, was ich im letzten Semester über die nationalsozialistische Zeit erfahren habe, mich bei der Erinnerung an die Rede des Schulleiters auf einmal so für diese Schule in unserer alten Stadt interessiere? Wahrscheinlich war da gar nichts besonderes, halt lediglich diese üblichen Schweinerein jener Zeit. Wirklich nichts Besonderes. Jüdische Schüler und Lehrer flogen von der Schule, die später dann alle vergast wurden. Widerspenstige Lehrer kamen ins KZ, die Lehrpläne wurden umgestellt, die Schüler mussten ständig irgendwelche braunen Lieder singen. Wer mit der Schule fertig war, der hatte gute Chancen, an der Front zu verrecken... Aber wenigstens diese ganz normalen Verbrechen der damaligen Zeit, die sollen einmal dokumentiert werden. Schulleiter Wegemann, seit drei Jahren in Pension, soll mal eine Broschüre darüber in der Hand halten müssen. Die ganze Stadt soll eine Ohrfeige bekommen.“
Manfred atmete tief durch und schaute starr auf den Tisch, Ilona schaute in dieselbe Richtung, dabei blinzelte sie ab und zu so unauffällig wie möglich in Richtung von Manfreds Papieren. Eine ganze Zeit sagten die beiden nichts.
Irgendwann schob Ilona Manfred etwas Brot rüber. Sie stand auf und holte zwei weitere Becher Kaffee. Es würde noch eine Zeit dauern, bis der Hausmeister käme und sie zum Verlassen der Cafeteria aufforderte, freute sie sich.
„Das ist ganz schön ehrgeizig. Nicht nur ein Referat, sondern gleich eine Broschüre soll es werden…“
„Damit hast du dann nichts zu tun, Ilona. Für die Verschriftlichung werde ich schon irgendwo
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