Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Hilfe finden.“
Kurz tippte Ilona Manfreds Hand mit dem Zeigefinger an. „Warten wir’s doch ab, Manfred. Lass uns erst mal das Referat machen. Vielleicht helfe ich dann ja, schließlich war ich neun Jahre auf diesem Gymnasium. Im Moment will ich nichts versprechen, denn ich hab‘ sowieso schon genügend Schiss, dass das hier alles zu viel für mich ist.“
„Das dachtest du ja auch schon in der Oberstufe. Und dann hast du ein gutes Abi gemacht.“
„Ach ja. Und immer, wenn ich etwas selbstbewusst werde, ist es auch gleich wieder weg.“
„Wir haben nur drei Wochen Zeit... Selbst wenn wir nicht sonderlich viel rausfinden, muss es reichen, um daraus ein Referat zu bauen. In dem Fall werden wir die Ereignisse am Neuenkirchburger Gymnasium einfach ausführlich in Verbindung mit der allgemeinen Geschichte erzählen. Für einen Schein müsste das reichen.“
„Was ist zu tun?“
„Wir müssen an die Schulprotokolle ran und schauen, ob nicht irgendjemand schon was geschrieben hat. Vielleicht ein ehemaliger Lehrer, irgendein Papier, das jetzt in der Schulbibliothek vor sich her gammelt. Ins Stadtarchiv sollten wir auch gehen, da werden vielleicht Briefe zu finden sein, die die Behörde an die Schulleitung geschrieben hat.“
Ilona legte ihren Terminkalender auf den Tisch, Manfred sprach weiter: „Nächste Woche ist Ostermontag. Am Dienstag, in aller Frühe, sollten wir nach Neuenkirchburg fahren und schauen, was sich da findet. Um 8 Uhr 30 macht das Archiv auf.“
„Du hast dich schon erkundigt…“
„Ich habe schon vor einem Monat versucht zu forschen. Irgendwie scheint nicht genau geklärt zu sein, wer an welche Akten darf. Bei mir zögerte der Archivar, sagte, es gebe keine Unterlagen. Das glaube ich aber nicht, dem hat in Wirklichkeit mein Gesicht nicht gepasst.“
„Ich werde mir einen Brief vom Sekretariat aufsetzen lassen, dass wir zu Forschungszwecken für die Universität Frankfurt arbeiten. Das wird Eindruck machen.“
Ilona und Manfred konkretisierten ihre Pläne. Neben dem Stadtarchiv sollte das Archiv des Gymnasiums besucht werden. Am Nachmittag auch noch die kleine Bibliothek von Neuenkirchburg. Manfred gab Ilona einen Tipp, welcher Aufsatz gut geeignet ist, damit sie mehr über die Zeit des Nationalsozialismus erfährt. Als Ilona dabei fragte, ob sie nicht Manfreds Papiere haben könnte, das seien ja schließlich alles Zusammenfassungen von irgendwelchen Aufsätzen und Büchern über diese Zeit, schlug Manfred so laut mit der flachen Hand auf seine Papiere, dass beide erschraken. Augenblicklich tippte Ilona Manfred auf dessen Handrücken.
„Manfred, ich weiß das doch.“
„Nein“, wiederholte Manfred entschieden.
Ilona sagte nichts mehr zu dem Thema; an der guten Stimmung zwischen den beiden änderte der kurze Disput aber nichts. Eingehakt gingen sie zum Bahnhof, um die Abfahrtzeit für den nächsten Dienstag zu klären. Beide hatten sie für den gemeinsamen Spaziergang gern auf die Straßenbahn verzichtet.
*
„Eigentlich hatte es sich für mich gar nicht mehr gelohnt, ins Bett zu gehen.“
Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als sich Ilona und Manfred am Bahnsteig trafen. Sie standen dort fast allein. Um diese Uhrzeit befanden sich viele Bahnreisende auf dem Weg in die Metropole am Rhein, nur wenige fuhren in die umgekehrte Richtung, nachmittags würde es dann umgekehrt sein. Im Schatten des Kiosks hatten Ilona und Manfred Schutz vor der aufgehenden Sonne gesucht, die schräg in die große Bahnhofshalle hineinschien und sie blendete. Der Verkäufer sortierte sein Wechselgeld, der nächste Zug würde einen Ansturm auf die Morgen-Zeitungen auslösen und ihm kaum eine Pause gönnen – das lange Osterwochenende war unruhig gewesen, ein Attentat auf einen Studentenführer hatte zu Unruhen geführt, Blut war geflossen.
Manfred schaute auf die Überschriften der verschiedenen Presseorgane, sogleich schossen ihn verschiedene Gedanken durch den Kopf, sein Hirn arbeitete auf Hochtouren und meinte, Grundlegendes klären zu müssen: Vieles ist im Land ins Rutschen geraten, vieles ist in Frage gestellt. Die Demonstranten werden getrieben und treiben, bei keinem Thema finden sie Ruhe, immer werden sie von den Zusammenhängen gequält. Ihr Hass gilt den Zwängen, sie fragen nach den Möglichkeiten, womit ein Tabu gebrochen wird. Im Pathos der Befreiung wird eine neue Generation sich ihrer selbst bewusst.
Ganz perplex von seinen Betrachtungen, wandte sich Manfred an
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