Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
„Nein, nein“, wiederholte sich Ilona. Dann zitterte ihre Stimme. „Besser als wenn er schon tot wäre.“
Der Professor spürte, wie er von Ilonas soeben hochgeschossenen Emotionen angesteckt wurde. Einen Moment brauchte er, bis er seine Entscheidung getroffen hatte, dabei dachte er zuerst an seine kleinen Gebrechen, dann an seinen fähigen Lebenshelfer, den Soziologie-Studenten, der mittlerweile auch ein Freund geworden war und ihn begleitete, wohin er auch ging.
„Ilona, ich bin morgen bei dir. Und ich bleibe auf unbestimmte Zeit.“
*
„Er ist nicht mehr da.“ Ilona sagte es gleich nach dem Öffnen der Haustür, auf eine Begrüßung hatte sie verzichtet.
„Ach du Schreck!“ Der Professor drehte seinen Kopf und sprach zu seinem Helfer: „Halt mich fest.“
Ilona ging einen Schritt nach vorn und nahm den Professor in den Arm; selten hatte sie ihn so innig gedrückt wie jetzt.
Der Professor sprach leise: „Das Leiden hat ein Ende.“
Ilonas Gesicht zeigte daraufhin einen Ausdruck von Unverständnis.
„ T‘schuldigung“, sagte der Professor. „Dümmeres fällt mir halt gerade nicht ein...“
„Deswegen war ich nicht irritiert... Ich glaube, du hast mich falsch verstanden...“
*
„Trauriges Wetter“, sagte der Professor.
„Passt ja“, meinte Ilona.
Nur der Soziologie-Student, der Helfer des Professors, hatte somit heute noch nichts gesagt. Seit einer halben Stunde saß er am Steuer des großen Mietautos, mit dem er den Professor bereits von Frankfurt nach Neuenkirchburg gefahren hatte. Er hatte von Ilona die Adresse in die Hand gedrückt bekommen, zu der er nun den Wagen lenken sollte. Ohne Probleme ließ er sich vom Navigationsgerät visuell und akustisch den Weg leiten.
Ilona und der Professor hatten auf den Rücksitz Platz genommen und bisher geschwiegen. Mit dem kurzen Dialog über das Wetter änderte sich das.
„Manfred muss sich schon lange damit auseinander gesetzt haben. Erzählt hatte er mir davon nichts“, begann Ilona. „Gestern, kurz nach deinem Anruf, sagte er, dass er gleich abgeholt wird. Er gab mir einen Zettel in die Hand, in der die Kleidungsstücke aufgeführt waren, die ich ihm einpacken soll. Auf einem anderen Zettel hatte er die Adresse aufgeschrieben, samt einer Kontaktperson und Telefonnummer. Er sagte, dass er alleine fahren wird und die ersten 24 Stunden alleine bleiben will.“
„Du hast ihn nicht...“
„Natürlich habe ich ihn versucht, davon abzubringen. Aber Manfred hatte vorgesorgt und mir vorher unübersehbar klar gemacht, dass ich ihn nicht stundenlang bedrängen soll.“
Aus dem Navigationsgerät kam die Ansage „Sie verlassen die Landstraße rechts ab Richtung Naturpark Nassau“. Der Helfer des Professors verringerte umgehend die Lautstärke.
„Als er mich ins Zimmer bimmelte, um mir seine Entscheidung mitzuteilen, hatte er groß an die Wand gekritzelt ‚Bitte einfach machen, was ich sage. Bitte! Ich liebe dich.‘“
„Ich verstehe“, nutzte der Professor Ilonas Sprechpause.
„‚Bitte‘ hatte er zweimal unterstrichen. Und ‚Ich liebe dich‘ viermal.“
Ilona schluckte, bevor sie weiter sprach. „Ich fragte noch mal, ob ich nicht wenigstens gleich mitfahren könnte, aber er schüttelte nur den Kopf. Dann hielt ein Auto vor der Tür und eine Frau und ein Mann, die sich mir kurz vorstellten, holten ihn ab. Sie nahmen Verschiedenes aus seinem Zimmer mit.“
Unmerklich war das Auto langsamer geworden. Die Straße, die auf einem grünen Schild den Namen einer kleinen Ortschaft ankündigte, zeigte sich nun in einem sehr schlechten Zustand. Oft schienen die Menschen den Ort nicht aufsuchen zu wollen.
*
Die Ansiedlung beschränkte sich auf eine einzige Straße, die in einem enggezogenen S in eine Sackgasse führte. In früheren Zeiten ging der von riesigen Linden umrandete Fahrweg hier noch weiter und stellte den Hauptverbindungsweg in die Außenwelt dar.
Der Ort umfasste ein paar groß angelegte Bauernhöfe. „Alles Ökobetriebe“, wie der Professor sofort feststellte. Einige Häuser standen leer. Bei zwei Gebäuden handelte es sich um Hotels; die Nummernschilder der dort parkenden Autos deuteten auf weiter entfernt lebende Besitzer hin. Es gab keine Kirche. Nichts deutete auf die Anwesenheit einer noch so kleinen Enklave irgendeiner staatlichen Institution hin, nirgendwo machte ein Bankautomat auf das Thema Geld aufmerksam und keine Werbetafel nahm irgendjemandem das seelische Gleichgewicht. Am Ende
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