Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
nur scheinbar artverwandter Begriff, anders verhalten kann, steht das Selbstbewusstsein doch erheblich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Verbindung und diesbezüglich erfuhr Manfred nur zu oft, dass ihm sein Leben am Existenzminimum mehr zu schaffen machte als er das nach außen hin zugab. Aber eben das Selbstwertgefühl, das war schon in Ordnung.
Die schöne Sicht aus einem Auto – das für ihn trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Mängel auch ein solches war und nicht etwa eine Schrottkarre – wollte gar nicht mehr aufhören auf seiner Fahrt durch Österreich und dann auf den wenigen Kilometern, die er noch in Italien zurücklegen musste, bevor er den Ort Klausen erreichte. So fühlte sich Manfred bei der Ankunft auf dem anvisierten Campingplatz entspannter als zu Beginn seiner Fahrt; das Aufbauen seines kleinen Hauszeltes ging fast von selbst. Bald saß er im Schneidersitz davor, blickte bergaufwärts zu den Wäldern und Wiesen, bewaffnet mit einem bis zum Rand gefüllten Kaffeebecher, der mehr an eine Konservendose erinnerte als an ein Trinkgefäß, das für seinen Erwerb selbstbewusst Geld hatte verlangen dürfen.
Leichtigkeit überkam ihm, eine ganze Zeit schloss er die Augen, ohne dabei aber ans Schlafen zu denken. Er dichtete; seine letzten Erfahrungen drängten ihn, Unsinn zu schmieden. Und so reimte er:
Hier im Süden Tirols in Klausen zu hausen
ist so schön wie im Auto nach Süden zu brausen
dabei am Steuer mit der linken Hand eine zu rauchen
und mit der rechten einen Cappuccino zu gebrauchen
Manfreds Lust zum nur scheinbar lustigen Reimen war wesentlich davon beeinflusst worden, dass er sich zum Selbigen bereits in seiner Frankfurter Wohnung zur Vorbereitung seiner hiesigen Absichten versucht hatte. Aber bevor sich das auf seine Anwesenheit in Klausen auswirken sollte, hatte er noch einiges zu klären.
Diesen Abend wollte Manfred es jedoch weiterhin locker angehen lassen. Seinen mehreren Bechern Kaffee folgte eine selbst zubereitete Mahlzeit in preiswertester landestypischer Art mit Spaghetti, Salat und Wein, wobei er den Trank in Erwartung eines längeren Aufenthalts gleich in einer fünf Liter Flasche, wie es in Italien nicht untypisch ist, eingekauft hatte. Nach zwei Stunden durfte er sich nicht mehr so sicher sein, ob die eine genügen würde, und minutenlang rätselte er über die Frage, ob die Flasche sich eher zu einem Fünftel oder zu einem Viertel geleert hatte. „Egal, entscheidend ist, dass der Wein leicht ist“, sprach er in Sorge um seine Funktionsfähigkeit am nächsten Tag. Ein Rentnerehepaar, das nebenan vor seinem Wohnwagen saß und Tee trank, schaute herüber und suchte nach Manfreds Gesprächspartner.
Beim Blick ins Nichts dachte er irgendwann an den Grund für sein heutiges Campen. Dass Klaus Wilkens in Klausen unter seinem richtigen Namen lebt, fand Manfred seltsam, wenn man daran denkt, dass er nach Südamerika auszuwandern gedachte, was ja nur diejenigen beabsichtigten, die richtig Dreck am Stecken hatten. Manfred hielt es für möglich, dass Wilkens‘ Schuld sich in Grenzen hielt und er aus anderen Gründen, vielleicht beruflicher Perspektivlosigkeit, mit dem Schiff übersetzen wollte. Aber wenn Klaus Wilkens‘ Wirken eher harmloserer Natur war, warum dann überhaupt seine Flucht? Vielleicht weil er ein Überzeugungstäter war und in einem demokratischen Deutschland nicht leben wollte, vielleicht aber auch weil er nach dem Zusammenbruch von einer rigorosen Verfolgung durch die alliierten Strafgerichte ausgegangen war – eine damals übliche, aber falsche Vermutung, denn schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ein Gestapo-Bediensteter im mittleren Rang wie Klaus Wilkens kaum noch spürbare Repressionen zu befürchten.
Dass Klaus Wilkens aus seinem Namen kein Geheimnis macht, muss ihn aber nicht zwangsläufig entlasten, er kann sehr wohl mit allen Grausamkeiten die Keller-Gestapo geleitet haben – dafür sprechen Adolf Wegemanns Aussagen. In dem Fall wird sich Klaus Wilkens aus irgendwelchen Gründen sicher gewesen sein, dass das nie jemand erfahren wird.
Viele Fragen konnten sich stellen, die nach Antwort verlangten.
Fürs Erste war Manfred froh, dass ihn das Thema Klaus Wilkens alsbald in Ruhe ließ und er bestens schlafen konnte, bis ihn am nächsten Morgen die Hitze im Zelt weckte. Beim zehnminütigen Gang in die Innenstadt war er dankbar, dass der Dusche nur kaltes Wasser zu entnehmen gewesen war, denn so fühlte er sich
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