Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
der Tabaccheria Wilkens blicken. Nur für Frühstück und Abendessen verließ er kurz sein Zimmer. Schokolade ersetzte das Mittagessen. Aschenbecher und Wein standen auf dem Beistelltisch. Gesund leben kann ich noch mit sechzig, dachte Manfred.
Die Fünf-Liter-Flasche Wein zeigte sich entleert, der Aschenbecher übervoll und die Schokoladenvorräte aufgebraucht, als Manfred am vierten Tag seiner Beobachtung zu der Einschätzung kam, dass ein weiteres Ausharren auf seinem Beobachtungsposten wohl keinen Erkenntnisgewinn mehr nach sich ziehen würde. Auf den ersten Blick schien ihm das, was er herausgefunden hatte, für seine Zwecke kaum nützlich, beim zweiten Nachdenken war er jedoch ganz anderer Meinung.
Jeden Morgen um 5 Uhr 30 stellte der Fahrer eines Lieferwagens Haufen von gebündelten Zeitungen und Zeitschriften in den Hauseingang. Unmittelbar darauf kam Klaus Wilkens aus seiner Wohnung und trug die Druckschriften in sein Geschäft. Um sechs Uhr öffnete er seinen Laden. Ab sieben Uhr half seine Frau. Bis zum frühen Vormittag bestimmte reger Kundenverkehr die Zeit – der Rubel scheint ganz gut zu rollen, folgerte Manfred, beziehungsweise die Lira, korrigierte er sich.
Kurz vor Mittag verließ Klaus Wilkens sein Geschäft Richtung Marktplatz. Seine Frau blieb noch eine halbe Stunde im Laden, bevor sie ihn für die lange, fast dreistündige Mittagspause schloss und in die Wohnung ging. Bald danach kam auch Klaus Wilkens nach Hause.
Am zweiten und dritten Tag folgte Manfred Klaus Wilkens unauffällig bei dessen mittäglichen Ausflug. Beide Male verlief Wilkens Rundgang nach einem festen Ritual. Dem Besuch der Bank schloss sich die Bestellung eines Cappuccinos in der Bar „Il giorno“ mit einem von viel Lächeln begleiteten Small Talk mit der weiblichen Bedienung an. Dann ging Klaus Wilkens zur Post. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung betrat er kurz eine Buchhandlung, in der er mit der Bedienung, diesmal eine männliche, einen zweiten Cappuccino trank und eine Zigarette rauchte.
Nachmittags arbeitete Klaus Wilkens allein in seinem Laden. In der letzten, sehr geschäftsträchtigen halben Stunde kam seine Frau zu Hilfe. Abends verließ Wilkens für eineinhalb Stunden sein Haus. Wiederum folgte ihm Manfred dabei zwei Mal.
Beim ersten Akt seines abendlichen Ausflugs muss es sich um einen Spaziergang handeln, zu einem anderen Ergebnis glaubte Manfred jedenfalls nicht kommen zu können. Wilkens ging zu dem auf einer Bergkuppel liegenden Klosters Säben, der Stolz des ganzen Ortes, der viele Touristen anzog. Unmittelbar vor der hoch aufgeschossenen, geschichtsträchtigen Anlage blieb er stehen, verweilte eine Zeit mit Blick auf das sich gut 200 Meter unter ihm ausbreitende Klausen, dann ging er ruhigen Schrittes den recht steilen Weg wieder zurück. Manfred versteckte sich in dem Wald, der die schmale Straße eng umschlungen hielt. Als er Klaus Wilkens vorbeischlendern sah, spürte er einen Schauer über seinen Rücken laufen, ein seltsamer Gedanke griff von ihm Besitz: Steht Wilkens‘ Wahl seines Spazierweges, diese kleine Wanderroute hoch zum Kloster Säben, etwa mit derjenigen Klosterroute in Verbindung, die vor über 30 Jahren so vielen Nazis zur Flucht verholfen hatte? Einen wirklichen Zusammenhang zwischen den beiden Gegebenheiten konnte Manfred nicht finden, nichtsdestotrotz ließ ihn der Gedanke den ganzen Rückweg nicht mehr los.
Klaus Wilkens betrat nach seinen Abendspaziergang ein Restaurant, in welchem an beiden Abenden schon der Buchhändler, den Wilkens zur Mittagszeit aufgesucht hatte, auf ihn wartete. Manfred beobachtete die beiden von der anderen Straßenseite, wo er so lässig wie möglich unter einer Laterne in einem Hauseingang saß und bei einer Zigarette scheinbar Zeitung las. Viel Reden tun die beiden nicht, vielleicht sind sie gute Freunde, die sich im Schweigen wohl miteinander fühlen und daraus Genuss ziehen, überlegte Manfred. Er überprüfte die Uhrzeit, als die beiden Männer das Restaurant verließen und sich gleich darauf voneinander verabschiedeten. Kurz vor neun war es, als Wilkens die Tür zu seiner Wohnung aufschloss.
Manfred hätte sich infolge ihn überkommender Müdigkeit gewünscht, dass bald darauf die Lichter in Wilkens Gemäuer ausgehen, aber den Gefallen tat ihm der ehemalige Leiter der Keller-Gestapo nicht. An den drei Abenden, die er durch die Gardine in Wilkens Wohnung schaute, verlosch das Licht nie vor Mitternacht, einmal sogar erst nachdem die Kirchturmuhr
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