Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
eingraviert, allesamt Frauennamen. Marianne, Hertha, Annemarie, Helga las Manfred auf die Schnelle, beigefügt waren die Heiratsdaten. Manfred überflog die Jahreszahlen, 1900, 1901, 1928, 1931. Vollkommen klar, was hier los gewesen sein muss, folgerte Manfred und nun konnte kein Licht und kein Witz sein Unwohlsein mehr in Grenzen halten – er erbrach sein Inneres auf den Boden, dabei dachte er immer wieder das entscheidende Wort: „Leichenfledderei, Leichenfledderei, Leichenfledderei“.
Die Erleichterung tat ihren Dienst, Manfred fühlte sich postwendend wieder halbwegs im Lot; er kam, wenn auch wankend, auf die Füße, schleppte sich zu einem Stühlchen, das wohl einem Grundschüler zum Sitzen gedient hatte, steckte die Pappschachtel fest in seine Brusttasche und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Irgendeiner der Gestapo-Leute hat den Opfern, ob tot oder lebendig, die Ringe abgezogen, sie gesammelt und versteckt. In den Tagen des Zusammenbruchs hatte der Räuber den Keller ohne seine Beute eilig verlassen müssen; nicht auszuschließen ist auch, dass der Dieb in den Kriegswirren umgekommen war.
Manfred wollte jetzt endlich diesem Ort entkommen. Die Lichtschalter interessierten ihn dabei nicht mehr, soll doch dieser Peer Stung, dieser getriebene Schulleiter, das Licht selbst ausknipsen, der wird hier eh noch nachschauen. Mit Mühe gelang es Manfred, die verrostete Kellertür zu verschließen. Den Schlüssel warf er der Sekretärin wortlos auf den Tisch. Auf Wiedersehen sagte er nicht, in einem gelungenem Sozialverhalten konnte er im Moment keinen Sinn sehen. Er wollte allein sein, was ihm in einem Café, das durch seine besondere Schmucklosigkeit kaum jemanden gefiel, einigermaßen garantiert sein konnte.
Genauso war es gewesen, stellte Manfred fest, als er vom Münchner Ring auf die Autobahn Richtung Österreich abbog und ein Resümee über seinen Besuch des Kellers des humanistischen Gymnasiums von Neuenkirchburg zog. Am Tag nach seinem Fund hatte er sich gefragt, ob er die Sache nicht beenden und Ringe und Wissen der Polizei übergeben sollte. Was er herausgefunden hatte, genügte, so hatte ihm sein Professor noch einmal bestätigt, um daraus, mit einigen allgemeinen Erörterungen ergänzt, eine Diplomarbeit mittlerer Güte zu basteln.
Aber Manfred nahm von dem Gedanken, die Sache der Polizei zu überlassen, gleich wieder Abstand, denn bei allem, was er gelesen hatte, konnte er sich nicht sicher sein, dass sich die bundesdeutschen Behörden mit dem gebotenen Ehrgeiz um Klaus Wilkens kümmern würden. Wilkens gehörte als Kriminalassistent zu den Unteroffizieren, und nur ein Angehöriger der Gestapo im Offiziersrang war für die westdeutschen Sicherheitsbehörden richtig interessant, wenn überhaupt. Auch Klaus Wilkens in den Jahren 1944/45 fast noch jugendliches Alter hätte ihn wenig begehrenswert für bundesdeutsche Polizeiinstitutionen gemacht.
Und da Klaus Wilkens vielleicht sogar, auch dafür hatte Manfred Beispiele in der wissenschaftlichen Literatur gefunden, von einem bundesdeutschen Staatsangestellten gewarnt worden wäre, befand sich Manfred jetzt auf dem Weg nach Klausen, um den ehemaligen Kriminalassistenten höchstpersönlich aufzusuchen. Er spürte gerade, hier auf der Alpenautobahn, dass er sich gut fühlte mit dieser Entscheidung. Bei allen Argumenten, die seine Fahrt nach Klausen begründeten, meldete sich auch dieser Schuss Abenteuerlust, den er schon oft erfahren hatte und den er zu genießen wusste. Den Seelenfrieden zum höchsten Gut zu erklären, wie es für die meisten seiner Mitmenschen spätestens mit dem Austritt aus der Adoleszenz-Zeit üblich war, verachtete er. Ein langweiliges Leben hatte er nie führen wollen und ein feiges schon gar nicht.
Und Manfreds Mut wurde nun erheblich gefordert, auch wenn er sich noch nicht am Ziel seiner Reise fand. Aus guten Gründen hatte er seinem Kadett so selten wie möglich längere Touren zugemutet und eine von der Länge wie die jetzige schon gar nicht. 600 Kilometer mit einem Auto zurückzulegen, das in Manfreds Bekanntenkreis gern als Schrottkarre charakterisiert wurde, war an sich schon ein Abenteuer. Aber er war eben kein Durchschnittsängstlicher, wie Manfred gerade sinnierte, nein, am Ende dieser achten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts – beim Wort Dekade musste er kurz grinsen – besaß er ein gesättigtes Gefühl, was seinen Selbstwert angeht. Wohl wissend, dass es sich mit seinem Selbstbewusstsein, einem dem Selbstwert
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