Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Menschenrechte?“
„Manfred...“
„Was sollten die Schüler nachsprechen?“
„Ich...“
„Du langweilst mich, Werner... Du hast noch eine Chance.“ Manfred schaute zuerst auf die Zigarettenglut und dann in Werners Augen, denen er immer näher gerückt war.
Werners Mund öffnete sich mehrmals ohne jeden Laut. Dann kam aber doch noch was. „Manfred kann nicht schreiben.“
„Gut, Werner, richtig gut. Für einen Sitzenbleiber ist das eine bemerkenswerte Gedächtnisleistung. Wie oft ist das damals wiederholt worden, was meinst du?“
„Manfred...“
„Du sollst antworten auf meine Fragen.“ Von der Autobahn hörte man ein langandauerndes Reifenquietschen. Vielleicht stirbt ja gerade jemand, dachte Manfred.
„Mein Gott, ich weiß es nicht“, atmete es schwer aus Werners Mund.
„Ich helfe dir gern, Werner. 48 mal, Werner. 48 mal habe ich mir das damals anhören müssen. Im Sprechgesang.“
Werner hielt dem Blick von Manfred nicht mehr stand und schloss die Augen.
„Sag es, Werner. Sag es. Oder ich drücke dir die Zigarette in den Leib.“
Manfred zog Werner die Decke weg.
„Sag es! 48 mal! Im Sprechgesang!“
*
Sah Manfred in Werners Antlitz irgendeine Regung, die von Pein oder schlechtem Gewissen zeugte? Schien seine Mimik oder seine Stimme irgendetwas von Bedauern oder Reue zu offenbaren? Bei 47 Wiederholungen, so war sich Manfred sicher gewesen, hatte Werners Inneres genügend Aufforderungen zum Graben und genügend Möglichkeiten zur Äußerung erhalten.
Enttäuscht und angewidert wandte sich Manfred von Werner ab, als dieser das letzte Mal „Manfred kann nicht schreiben“ ausgerufen hatte. Werner hatte sich der Macht der Zigarettenglut und der Ohnmacht seiner an Händen und Füßeln gefesselten Körperlichkeit gebeugt und die Sätze wie gefordert ausgesprochen, aber irgendetwas, was Manfred als einen menschlichen Zug hätte deuten können, hatte sein Konterfei nicht gezeigt. Werner hatte 48 Mal dasselbe gesprochen, um seine Haut zu retten; seiner Seele schien es egal gewesen zu sein, was er da sagen musste, schlussfolgerte Manfred und wandte sich dem nächsten Punkt zu, den er in seinem Dialog mit Werner klären wollte und der ebenfalls seinen Anfang in Gorleben genommen hatte. Dort hatte Ilona einmal beiläufig davon berichtet, dass ihr mal vor langer Zeit von ihrer Freundin Elisabeth berichtet worden ist, dass die Rolle von Werners Vater im Nationalsozialismus dubios war. Und dass Werner davon etwas weiß.
Ilonas Aussage war Manfred nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Seine Diplomarbeit hatte noch nicht lang zurückgelegen und das Thema Nationalsozialismus war er nicht los geworden. Dafür waren seine Forschungen zu sehr von dem Ergebnis überlagert gewesen, dass sein Vater von der Keller-Gestapo ermordet worden war.
Und so hatte Manfred auch nach Abschluss seiner Diplomarbeit immer wieder mal in den Akten der Keller-Gestapo gewühlt. Wobei er es zu schätzen wusste, nun nicht mehr von der Herausforderung einer Abschlussarbeit mit einem bedrohlich näher rückenden Abgabetermin getrieben zu sein, sondern die Quellen des Verbrechens ohne genaue Zielvorgabe auf sich wirken lassen zu können. Manchmal blieb er beim Lesen stundenlang an einem Absatz hängen, ließ seine Gedanken treiben und kreierte dabei den einen oder anderen möglichen und auch unmöglichen Zusammenhang. Dass dabei nochmal seine Ruhe gefährdet werden könnte, hielt Manfred für ausgeschlossen.
Bei seiner Quellenschau kommentierte Manfred einmal einen Befund mit „witzig“, der sich alsbald als sehr folgenschwer und überhaupt nicht mehr witzig herausstellen sollte. Zuerst hatte er seinen Fund, der ihm zu denken gab, einfach überlesen, aber als es ihm zum wiederholten Male begegnete, meldete sich die Neugier und schon bald war er schlauer, ein Umstand, den Werner heute, hier im Verlies unter der Autobahnbrücke, zu spüren bekommen sollte.
„Lies!“, forderte Manfred Werner auf, als er ihm eine Akte der Keller-Gestapo unter die Nase hielt.
„Wie, ich soll lesen. Jetzt ist Schluss. Sag mal, willst du mich verdursten lassen?“
Manfred hielt einen erneuten Hinweis an Werner, dass er seine Situation völlig falsch einschätzt, für wenig erfolgversprechend. Werner wird es zu sehr verinnerlicht haben, dass er bisher stets die besseren Karten hatte, wenn wir miteinander zu tun hatten, überlegte Manfred.
Ein minutenlanges Schweigen von Manfred änderte Werners Haltung. Zu Werners eigener
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